BODEN
BURNOUT

Um die Böden der Erde zu retten
– und damit uns selbst –
müssen wir unsere Landwirtschaft radikal ändern

von Marius Münstermann
Fotos & Videos Christian Werner
Illustrationen Erik Tuckow

Für diese multimediale Reise in den Untergrund
empfehlen wir Vollbildmodus und Kopfhörer.

Kapitel II

Ausgelaugt

„Wir wissen mehr über die Bewegung der Himmelsgestirne
als über den Boden unter unseren Füßen.“

Leonardo da Vinci

Seit der Antike galt der Misthaufen als stinkendes Statussymbol: Je höher sich der Dung der Tiere vor dem Hof türmte, desto reicher der Gutsbesitzer. Schon der griechische Dichter Homer beschrieb im achten Jahrhundert vor unserer Zeit, wie die Knechte des Odysseus den Mist auf den Feldern verteilten. Längst hatten die Menschen erkannt, dass die Ochsen und Pferde, mit denen sie ihren Pflug zogen, mit ihren Hinterlassenschaften den Acker düngten. Wer hingegen mit der Ernte bloß Nährstoffe vom Feld abtransportierte, aber dem Boden nicht genügend Nährstoffe in Form von Mist zurückgab, dessen Acker drohte bald keine Nahrung mehr herzugeben. Tatsächlich trugen die zunehmend ausgelaugten Böden nicht unerheblich zu den katastrophalen Missernten und Hungersnöten bei, die ab dem Mittelalter Millionen Menschen das Leben kosteten. In der Folge entwickelten die Bäuerinnen und Bauern die Dreifelderwirtschaft, die früheste Form der Fruchtfolge. Fortan wurden abwechselnd Sommer- und Wintergetreide angebaut, bevor die Fläche im dritten Jahr brach lag und als Weide genutzt wurde. Die Ausscheidungen der Tiere düngten den Boden für das Folgejahr.

Es dauerte noch einige Jahrhunderte, ehe der Chemiker Justus von Liebig 1840 die Grundlagen der modernen Düngung formulierte: „Als Prinzip des Ackerbaus muss angesehen werden, dass der Boden in vollem Maße wiedererhalten muss, was ihm genommen wurde; in welcher Form dies Wiedergeben geschieht, ob in der Form von Exkrementen, oder von Asche oder Knochen, dieses ist wohl ziemlich gleichgültig.“ Liebig schloss mit einer geradezu visionären Prophezeiung: „Es wird eine Zeit kommen, wo man den Acker, wo man jede Pflanze, die man darauf erzielen will, mit dem ihr zukommenden Dünger versieht, den man in chemischen Fabriken bereitet.“ Die von Liebig begründete „Agrikulturchemie“ ebnete den Weg für die industrielle Herstellung von Düngemitteln.

Der Boden galt von nun an gewissermaßen als chemisches Depot, welches die Nutzpflanzen gedeihen ließ, solange man dem Acker nach der Ernte nur ausreichend neue Nährstoffe und Mineralsalze zuführte. Die aufkommende Düngemittelindustrie entwickelte sich bald zu einer der Triebfedern des Kolonialismus, denn es begann ein weltweiter Wettlauf um die Lagerstätten der begehrten mineralischen Rohstoffe. So stritten das Deutsche Kaiserreich und das Britische Empire um das winzige Pazifikatoll Nauru. Seevögel nutzten die Insel als Brutplatz und hatten sie im Laufe der Zeit mit einer meterdicken Schicht aus Kot überzogen. Der Dung der Vögel verwitterte zu reichhaltigem Calciumphosphat, das als Guano-Dünger weltweit begehrt war. Durch den Guanoabbau gleicht das Inland Naurus noch heute einer Kraterlandschaft. An der Pazifikküste Südamerikas kam es wegen der dortigen Guanovorkommen im Grenzgebiet zwischen Peru, Bolivien und Chile sogar zum Krieg.

„Brot aus Luft“

Der nächste Durchbruch in der Geschichte der Düngemittel gelang den Chemikern Fritz Haber und Carl Bosch im Jahr 1911: Sie gewannen in einer chemischen Reaktion, unter hohen Temperaturen und enormem Druck, den natürlich in der Luft vorkommenden Stickstoff. Es tröpfelt”, soll Fritz Haber begeistert ausgerufen haben, als das so synthetisierte flüssige Ammoniak aus der Apparatur rann. Carl Bosch machte die Ammoniaksynthese für die Badische Anilin- und Sodafabrik, besser bekannt unter ihrem Kürzel BASF, marktreif. Am Stammsitz in Ludwigshafen am Rhein entstand die erste Fabrik zur großindustriellen Stickstoffdüngerproduktion. Mit dem Haber-Bosch-Verfahren ließ sich „Brot aus Luft“ gewinnen, frohlockten Zeitgenossen, für die die synthetischen Düngemittel nicht weniger als eine Revolution der Nahrungsmittelproduktion bedeutete. Heute ist der so gewonnene Stickstoff der meistgenutzte Dünger der Welt. Die Hälfte der Weltbevölkerung wird mit Nahrungsmitteln ernährt, die unter Zugabe von Stickstoff aus dem Haber-Bosch-Verfahren gewachsen sind.

Doch zunächst entfaltete das synthetisierte Ammoniak eine äußerst zerstörerische Wirkung...

... als Sprengstoff im Ersten Weltkrieg.

„Im Frieden der Menschheit, im Krieg dem Vaterland“, so Haber, der bald nach Kriegsbeginn die ersten Kampfmittel mit Giftgas entwickelte. Die Erforschung dieser chemischen Stoffe bildete die Grundlage für viele Pestizide, die teils bis heute in der Landwirtschaft zum Einsatz kommen.

Nach dem Krieg suchte die Sprengkraft des Ammoniaks das BASF-Werk im badischen Oppau heim, wo 1921 ein Düngemittelsilo explodierte. 

Die Detonation tötete 559 Menschen und beschädigte Häuser in bis zu 75 Kilometern Entfernung vom Unglücksort, der Knall war bis München und Zürich zu hören. Gemessen an der Opferzahl war es das bis heute größte Unglück in der Geschichte der deutschen chemischen Industrie. 

So gewaltig der Energiegehalt der chemischen Verbindungen, so enorm ist der Aufwand, unter dem die synthetisch gewonnenen Düngemittel hergestellt werden. Allein das Haber-Bosch-Verfahren, das in der Regel mit Erdgas befeuert wird, ist heute für ein Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich. Die gesamte agrochemische Industrie – also die Herstellung von Düngemitteln und Pestiziden – verschlingt mehr als die Hälfte der insgesamt für die Produktion von Agrarerzeugnissen eingesetzten Energie. So verursacht die Landwirtschaft ein Drittel der weltweiten Treibhausgasemissionen.

Allerdings könnte die Landwirtschaft weltweit ein Drittel weniger Stickstoffdünger auf die Felder ausbringen – und trotzdem dieselben Ernten einfahren. Die Düngemengen müssten lediglich global besser verteilt werden, so das Ergebnis einer aktuellen Studie. Denn der Dünger, der etwa in Afrika zu höheren Ernten beitragen könnte, wird zurzeit andernorts verschwendet. In Europa etwa gelten bis zu drei Viertel aller Äcker als überdüngt. Und das hat fatale Folgen für den Boden.

Stickstoffdünger etwa schadet Mykorrhiza-Pilzen – und ausgerechnet diese Pilze spielen eine herausragende Rolle im Boden. Die Pilze besiedeln die Wurzeln von Pflanzen. Die Forschung geht davon aus, dass neunzig Prozent aller Pflanzen solche Symbiosen eingehen. Vermutlich waren es sogar Mykkorhiza-Pilze, die den ersten Pflanzen halfen, die Meere zu verlassen und das Land zu erobern. Die Pilze versorgen die Pflanzen mit Nährstoffen, vor allem mit Phosphat, einem essentiellen Baustein für das Pflanzenwachstum. Im Gegenzug erhalten die Pilze von den Pflanzen unter anderem energiereiche Kohlenstoffverbindungen, die sie selbst nicht herstellen können. Eine Studie kam zu dem Ergebnis, dass das weltweite Mykorrhiza-Geflecht unter der Erde jedes Jahr bis zu 13 Milliarden Tonnen CO2 aufnehmen kann – das ist mehr als ein Drittel der jährlichen Treibhausgasemissionen aus fossilen Brennstoffen.

Ein Mykkorhiza-Pilz hat die feinen Enden einer Wurzel besiedelt

Wie die Finger eines Handschuhs umhüllen Mykorrhiza-Pilze die hauchzarten Wurzelfäden, schützen diese und machen Nährstoffe für die Pflanze verfügbar. Ohne die Hilfe der Mykorrhiza-Pilze kommen die meisten Pflanzen gar nicht an die im Boden gebundenen Phosphate heran.

Wie die Finger eines Handschuhs umhüllen Mykorrhiza-Pilze die hauchzarten Wurzelfäden, schützen diese und machen Nährstoffe für die Pflanze verfügbar. Ohne die Hilfe der Mykorrhiza-Pilze kommen die meisten Pflanzen gar nicht an die im Boden gebundenen Phosphate heran.

Fehlen die Pilze, bleiben die meisten Phosphorverbindungen ungenutzt. Der Pilzforscher Arthur Schüssler hat errechnet, dass achtzig Prozent des als Dünger ausgebrachten Phosphors zu keinem Zeitpunkt für die Pflanzen verfügbar ist, weil in den Äckern zu wenig Mykkorhiza-Pilze leben. „Eine Verschwendung, die wir uns nicht mehr lange leisten können“, so Schüssler.

Kunstdünger sind in der Regel wasserlöslich. Das ist praktisch, da die Nährstoffe somit für die Pflanzen auch ohne Pilze sofort verfügbar sind. Doch überschüssige Nährstoffe, die von den Pflanzen nicht aufgenommen werden, wäscht der Regen früher oder später aus dem Acker. In Flüssen und Seen kommt es dann zur Eutrophierung, einem Überfluss an Nährstoffen. Es wachsen vermehrt Algen, deren Verrottung dem Wasser wiederum Sauerstoff entzieht. In den Ozeanen gibt es deshalb regelrechte „Todeszonen“, in denen am Meeresgrund kaum noch Sauerstoff vorhanden ist. Das Unterwasserleben kollabiert. Eine der größten dieser Todeszonen befindet sich in der Ostsee.

Im Trinkwasser wiederum gelten zu hohe Konzentrationen von Nitrat, einer Stickstoffverbindung, als krebserregend und insbesondere für Säuglinge gesundheitsschädlich. Das Umweltbundesamt schreibt: „Wo Landwirtschaft betrieben wird, ist deutschlandweit zu viel Nitrat im Grundwasser.“ Fast ein Fünftel des Grundwassers hierzulande ist infolge übermäßiger Düngung dauerhaft mit der problematischen Stickstoffverbindung belastet. Immer mehr Wasserwerke müssen es mit sauberem Wasser verdünnen, um die Trinkwasserversorgung sicherstellen zu können.

Laut EU-Kommission sind zudem 21 Prozent der europäischen Böden mit Cadmium kontaminiert, und zwar in Konzentrationen, die den Grenzwert zum Schutz des Trinkwassers teils deutlich übersteigen. Auch Cadmium gilt als krebserregend. In die Böden gelangt das Schwermetall vor allem über phosphathaltige Mineraldünger.

Meine Herde lebt unter der Erde.

Jan Wittenberg, Bio-Landwirt in Niedersachsen

Während die umliegenden Felder im niedersächsischen „Schweinegürtel“ mit Gülle aus der Massentierhaltung getränkt werden, bewirtschaftet Jan Wittenberg seine Äcker bei Hildesheim komplett ohne zugeführte Düngemittel. Synthetischer oder mineralischer Dünger ist für seinen Biobetrieb sowieso tabu. Wittenbergs Geheimrezept: vielfältige Fruchtfolgen – insbesondere der Anbau von Hülsenfrüchten. Zur dieser Pflanzenfamilie, auch Leguminosen genannt, gehören etwa Bohnen, Erbsen und Linsen, aber auch Klee, Lupine oder Luzerne. Ihre Besonderheit: Mithilfe von Knöllchenbakterien, die sich an ihren Wurzeln ansiedeln, können sie Stickstoff aus der Luft im Boden binden. Stickstoff ist ein elementarer Baustein des Lebens, der unabdingbar ist für den Stoffwechsel und das Wachstum von Pflanzen.

Wer nährstoffhungrige, besonders stickstoffzehrende Kulturen wie etwa Kartoffeln oder Mais anbaut, muss sicherstellen, dass dem Boden nach der Ernte genügend Stickstoff zugeführt wird. Als sogenannte Stickstoffbinder spielen Leguminosen deshalb seit jeher eine wichtige Rolle in der Fruchtfolge. In seiner Eiweißpflanzenstrategie betont das Bundesministerium für Landwirtschaft und Ernährung: Der Einsatz von Leguminosen ist von essenzieller Bedeutung für die Landwirtschaft insgesamt und trägt neben der regionalen Produktion von pflanzlichen Proteinen für Fütterung und Humanernährung auch zum Klimaschutz bei.

"Knöllchen"-Symbiose an einer Sojapflanze, in deren Wurzeln Rhizobien-Bakterien leben.

Fruchtbare Symbiose: An den Wurzeln dieser Sojapflanze siedeln stickstoffbindende Rhizobien-Bakterien, zu erkennen an den für Hülsenfrüchte typischen „Knöllchen“.

Fruchtbare Symbiose: An den Wurzeln dieser Sojapflanze siedeln stickstoffbindende Rhizobien-Bakterien, zu erkennen an den für Hülsenfrüchte typischen „Knöllchen“.

Die Flächen, auf denen in der EU Hülsenfrüchte angebaut werden, haben sich in den vergangenen zehn Jahren zwar mehr als verdreifacht. Für die meisten Betriebe jedoch sind Hülsenfrüchte kommerziell wertlos. Das Saatgut kostet Geld, die reifen Früchte aber lassen sich nur in geringen Mengen vermarkten. Zwar steigt die Nachfrage, seit pflanzliche Alternativen zu Fleisch- und Milchprodukten im Trend sind. Jan Wittenberg verkauft seine Lupinen, Bohnen und Linsen an eine Firma, die sie zu Bio-Brotaufstrichen und anderen proteinreichen Lebensmitteln verarbeitet – so sind seine Hülsenfrüchte nicht nur bodenschonend, sondern fördern zugleich die Gesundheit.

Doch in der EU landen rund 93 Prozent aller pflanzlichen Proteine noch immer im Futtertrog – und der wird bevorzugt mit billigem Soja aus Übersee gefüllt. Deshalb verrotten die meisten Hülsenfrüchte auf Europas Äckern. Sie werden zwar als Gründüngung untergepflügt, sodass ihr Anbau dem Boden zugute kommt. Die eiweißreiche Ernte aber wird verschwendet.

Es sind die Nachwehen eines wenig bekannten Deals: 1992 besiegelten die EU und die USA das sogenannte Blair-House-Abkommen. Im Rahmen der Verhandlungen des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens, die ein Jahr später zur Gründung der Welthandelsorganisation WTO führten, ordneten die führenden Industriestaaten den Weltmarkt für Getreide und Eiweißpflanzen neu. Die EU gewährte den USA und später den lateinamerikanischen Agrarriesen Brasilien und Argentinien die zollfreie Einfuhr von Eiweißpflanzen, allen voran Soja. Im Gegenzug entwickelte sich die EU vom Netto-Getreideimporteur zum weltweit zweitgrößten Getreideexporteur nach den USA. Einer der Hauptgründe war, dass in der Tierhaltung statt heimischem Getreide zunehmend Soja verfüttert wurde. Derzeit importiert die EU rund zwei Drittel ihres Futtereiweißbedarfs aus den USA und Lateinamerika. Deshalb gilt noch heute, was die im Auftrag der Grünen im Europaparlament erstellte Studie mit dem Titel Artenvielfalt statt Sojawahn bereits 2011 feststellte: Wir nutzen Flächen für unseren kalorienvernichtenden Ernährungsstil, die auf diese Weise einem Großteil der Menschheit nicht mehr zur Verfügung stehen.

Jan Wittenberg engagiert sich seit Langem gegen diese ungerechte Agrar- und Handelspolitik. Wenn unter dem Motto „Wir haben es satt“ jedes Jahr im Januar Tausende Menschen durch das Berliner Regierungsviertel ziehen, um gegen „Agrarfabriken“ und für eine zukunftsfähige Landwirtschaft zu demonstrieren, dann fährt er mit seinem gelben Traktor vorne weg.

Auch in Niedersachsen gefällt er sich in der Rolle des Agrarrebellen. Ein kräftiger Wind bläst über die Landschaft, als Wittenberg an einem kühlen Märztag über sein Feld mit frisch gekeimten Lupinen rollt. Wie ein moderner Feldherr steht er auf seinem Traktor, ohne klimatisierte Kabine trotzt er Wind und Wetter.

„Ich bin die Einstiegsdroge“ 

Für die Lebewesen unter der Erde gleiche es einem Erdbeben, wenn ein Pflug durch den Boden wühlt, erklärt Jan Wittenberg. „Das feine Geflecht der Pilzhyphen, das den gesamten Boden durchzieht, wird zerrissen.“ Das Wenden des Oberbodens dreht den Lebensraum unter der Erde auf den Kopf. Arten, die sonst nie Tageslicht sehen, werden an die Oberfläche geworfen. Andere, die sich für ein Leben in den obersten Zentimetern des Bodens eingerichtet haben, werden begraben.

Durch die Bodenbearbeitung gelangt Luft in tiefere Schichten, wodurch sauerstoffliebende Bakterien angeregt werden, die sich vom Humus ernähren, ihn abbauen und die darin gebundenen Nährstoffe für die Pflanzen freigeben. Deshalb ist der Pflug gerade für viele Biobetriebe, die nicht künstlich düngen dürfen, so wichtig: er lüftet den Boden und regt die bakterielle Aktivität an. Doch die Bakterien erschließen nicht nur Nährstoffe. Ihr Stoffwechsel verbrennt den im Humus gebundenen Kohlenstoff, Kohlenstoffdioxid wird ausgeatmet. Gepflügte Äcker sind deshalb regelrechte CO2-Schleudern.

Mit dem Pflug hat die Menschheit die Böden seit Jahrtausenden urbar gemacht. Im Bestreben, sich die Natur untertan zu machen, brachte die mechanische Bodenbearbeitung den entscheidenden Durchbruch. Denn wo dichte Vegetation den Boden bedeckte, konnte kein Korn gesät werden. Deshalb gehört der Pflug noch immer zur Standardausrüstung der meisten Bauern – insbesondere im Bio-Landbau, der keine Herbizide einsetzen darf. Statt synthetische „Unkrautvernichtungsmittel“ zu sprühen, pflügen sie unerwünschte Wildkräuter meist einfach unter.

Jan Wittenberg zeigt, dass es auch ohne Pflug geht. Um dieses Wissen zu verbreiten, arbeitet er neben dem Ackerbau als Vertreter eines mittelständischen Landmaschinenherstellers aus Bayern. Der bewirbt seine Geräte als Landmaschinen für den Bio-Ackerbau. Alle paar Wochen lädt Wittenberg seinen Traktor und seinen Striegel auf einen großen Anhänger und fährt damit quer durch Norddeutschland, um andere Landwirte von den Vorzügen seiner speziellen Landmaschinen und der damit verbundenen Arbeitsweise zu überzeugen. Die Zielgruppe: etwa ein Drittel Biobauern, ein Drittel Umstellerbetriebe und ein Drittel Konventionelle. Jan Wittenberg sagt von sich: Ich bin die Einstiegsdroge.

Der Pflug war im wörtlichen Sinne eine umwälzende Erfindung. Er bereitete den Boden für die Landwirtschaft, wie wir sie heute kennen. Doch Jan Wittenberg ist überzeugt: Angesichts der fortschreitenden Bodendegradation muss der Pflug als zivilisatorische Errungenschaft völlig neu bewertet werden. Spätestens seit der Pflug mit dem europäischen Kolonialismus in die besonders erosionsanfälligen Tropen vordrang, richtet die Bodenbearbeitung weltweit verheerende Schäden an.

The nation that destroys its soils, destroys itself.

Franklin D. Roosevelt, 32. Präsident der USA, 1933 - 1945

Mit der Expansion nach Westen machten die europäischen Siedler in den USA die Prärie urbar. Zuerst rotteten sie die Bisons nahezu aus, die über Millionen Jahre eine der größten Graslandschaften der Welt geprägt hatten. Ihre Knochen wurden zu Dünger gemahlen.

Dann brachen sie mit ihren Pflügen, die sie aus Europa mitgebracht hatten, den Boden um.

Der nun angebaute Weizen jedoch wurzelte viel flacher als die ursprünglichen Präriegräser. Als dann der Regen ausblieb und die Pflanzen vertrockneten, war der Boden nicht mehr zu halten.

Der Wind trug ihn einfach davon. Zwischen 1935 und 1938 verdunkelten immer wieder schwarze Staubwolken den Himmel. Am 14. April 1935, der als Black Sunday in die Geschichte einging, zog der Staub bis zum Kapitol in Washington. 

Die Erosion verwandelte große Teile der Prärie Nordamerikas in eine Dust Bowl, eine Staubschüssel, und gilt bis heute als größte Umweltkatastrophe der USA. 

Wie verheerend solche Staubstürme auch in Deutschland wüten können, zeigt sich am 8. April 2011 auf der A19 zwischen Berlin und Rostock. Starke Böen wehen den Oberboden von einem blanken Acker über die Fahrbahn, binnen Sekunden ist die Luft von ockerfarbenem Staub erfüllt, die Sicht geht gegen Null. Dutzende Fahrzeuge rasen ineinander, ein Gefahrguttransporter fängt Feuer. Acht Menschen verbrennen in ihren Autos, 130 weitere kommen zum Teil schwer verletzt ins Krankenhaus. Nach der Massenkarambolage sagt Mecklenburg-Vorpommerns damaliger Agrarminister Till Backhaus: „Das waren feinste Humuspartikel, die der Sturm aufgewirbelt hat.“ 

Durch die Brandenburger Agrarwüste fegen solche Sandstürme Jahr für Jahr.
Viele davon hat Landwirt Mark Dümichen mit seinem Handy gefilmt.

„Die Leute sagen über unsere Region:
Roggenmeer, Kartoffelmeer – gar nichts mehr.“

Mark Dümichen, Bauer in Brandenburg

Der Niedere Fläming, etwa eine Stunde südlich von Berlin, ist einer der trockensten Landstriche Deutschlands. Es ist Mitte Juni, seit April hat es nicht mehr nennenswert geregnet. Schon fallen wieder die ersten Dorfteiche trocken. Hier und da stehen noch vereinzelt die verkohlten Rümpfe der Kiefernplantagen, von denen hier inzwischen jedes Jahr Hunderte Hektar abbrennen. Klimamodelle prognostizieren: In wenigen Jahrzehnten werden sich weite Teile Brandenburgs in Steppe verwandelt haben.

In Lichterfelde im Landkreises Teltow-Fläming geht es von der Dorfstraße durch einen Torbogen in den Innenhof eines stattlichen Vier-Seiten-Landguts. „Meine Vorfahren haben hier seit 1600 Ackerbau betrieben“, sagt Hausherr Mark Dümichen. „Und irgendwie scheinen die das ja alles auch mal ganz jut hingekriegt zu haben, wenn man sich dat hier so ankiekt.“ Zupackender Händedruck. „Also früher konnte man hier offenbar jut vom Ackern leben. Insofern kann ich mir nicht vorstellen, dass die Böden in der Gegend schon immer so schlecht waren.“ Sein Sohn studiert Landwirtschaft, er soll den Hof eines Tages übernehmen. Doch Dümichen kommt gleich zur Sache: „Wenn wir hier noch weiter Ackerbau betreiben wollen, dann sollten wir uns schleunigst was überlegen. Sonst können wir den Laden hier in ein paar Jahren dichtmachen.“

Bevor es aufs Feld geht, erstmal zum Imbiss ums Eck, wo sich morgens die Bauern aus der Umgebung treffen. Es gibt Kaffee und halbe Brötchen mit Streichwurst vom Schwein, das Dümichen noch selbst schlachtet. Dazu servieren seine Berufsgenossen trübselige Anekdoten aus ihrem Alltag. Gerade erst habe sich wieder ein Bauer das Leben genommen. Die steigenden Preise für Dünger, Diesel, Pestizide und die Pacht. Die viele Arbeit. Schulden ohne Ende. Und dann die schlechten Ernten. Dümichen rechnet vor: Am Ende des Tages acker ich für einen Stundenlohn von 1,25 Euro. Warum er sich das noch antut? Dümichen redet von Bauernstolz, von Tradition. Ohne jede Übertreibung: Bauer sein, das ist der wichtigste Job der Welt. Wer soll denn sonst unsere Nahrungsmittel anbauen? In der morgendlichen Tristesse wird klar: Die meisten Landwirtinnen und Landwirte sind gefangen in einem System, das sie für diese Leistung mit Hungerlöhnen abspeist.

Um zu erklären, wie es so weit kommen konnte, fährt Dümichen zu einem der Maisfelder, von denen die ganze Landschaft dominiert wird. Auf dem Acker seines Nachbarn steht der Mais hüfthoch, die Pflanzen sehen kümmerlich aus. Seit 15 Jahren wachse hier Mais nach Mais nach Mais, ohne jede Fruchtfolge, erklärt Dümichen kopfschüttelnd. Dass eine solche Mais-Monokultur – kurzfristig – die höchsten Einnahmen verspricht, sei die Wurzel des Problems. Hinzu kommt: „Mais keimt spät, wächst dann zunächst langsam und wird ohne Rückstände geerntet, erklärt Dümichen. Die meiste Zeit des Jahres bleibt der Boden nackt. Am Ende wird die ganze Pflanze geschreddert und in eine der vielen Biogasanlagen gebracht. Weil er Geld verdienen muss, baut auch Dümichen auf einem Teil seiner Flächen Mais für Biogasanlagen an. Doch der Anbau der Energiepflanze verschärft nicht nur die Konkurrenz um Flächen, die zur Nahrungsmittelproduktion fehlen. Die gewinnträchtigen Biogasanlagen treiben auch die Pachtpreise weiter in die Höhe, das haben mehrere Studien nachgewiesen. Die vergärten Pflanzenreste aus den Anlagen wiederum landen als Dünger auf dem Feld. „Das ist eigentlich eine reine Entsorgungsfläche für Gärreste, sagt Dümichen mit Blick auf sein Nachbarfeld. Doch ohne Frutchfolge verarme der Boden. Ein lebendiger Boden jedenfalls sei das nicht. Der Acker ist knüppelhart.Er staubt in der flirrenden Hitze, als Dümichen mit der Schuhsohle an der Oberfläche scharrt.

Die immer größeren Betriebe gehören einigen wenigen Agrarholdings. Sie müssen kurzfristig und renditeorientiert wirtschaften, dafür müssen ihre Ernteerträge die hohen Kosten für Düngemittel und Pestizide decken. „Die langfristige Bodengesundheit interessiert die gar nicht“, ist Dümichen überzeugt. Wären die Pachtpreise niedriger, bliebe noch Geld übrig, das man in die Pflege der Böden stecken könnte, zum Beispiel für den Anbau von Zwischenfrüchten. Wenn ich aber nur zusehen muss, dass ich am Ende überhaupt etwas verdiene, dann spare ich, wo immer ich kann. Und der Leidtragende ist immer zuerst der Boden.“

Dümichen sagt, der Maisacker werde von einer Holding des Unternehmers Siegfried Hofreiter bewirtschaftet. Im Geschäft mit dem Ackerboden war Hofreiter vom Kleinbauern aus Bayern zum Chef der KTG Agrar aufgestiegen, dem zwischenzeitlich größten Agrarkonzern Europas – insbesondere dank der riesigen Ackerschläge in Ostdeutschland, die seit der Wende bei Finanzinvestoren begehrt sind. Im Jahr 2016 legte Hofreiter dann die teuerste Pleite in der Geschichte der deutschen Agrarindustrie hin. Doch bereits zwei Jahre nach dem Bankrott mischte er wieder mit im Geschäft mit dem Mais und den Biogasanlagen. Das Fachblatt Finance berichtete damals: In der Region kursieren Gerüchte, wonach Hofreiter in der Dürrekatastrophe eine Chance sieht, wieder im großen Stil in sein altes Geschäft zurückzukehren. Denn wenn kleinere Betriebe aufgrund schlechter Ernten ihre Flächen aufgeben müssen, kaufen die Agrarmultis das Ackerland auf. Für eine Anfrage des Greenpeace Magazins war Siegfried Hofreiter nicht zu erreichen, er wurde im November 2023 wegen mutmaßlichen Betrugs in einem anderen Fall in Untersuchungshaft genommen. Sicher ist: Nur wer die Erträge maximiert, kann überleben. Die kleinen Höfe sterben aus, die Großen werden immer größer. Es ist ein ungleicher Wettbewerb, aus dem Mark Dümichen seit 15 Jahren auszubrechen versucht.

Auf den sandigen Brandenburger Böden, im zunehmend trockenen Klima, zeigt Mark Dümichen, wie es gehen könnte – oder wie er selbst sagt, „wie Landwirtschaft hier überhaupt noch eine Zukunft hat.“ Er bestellt seine Flächen in Direktsaat. Bei diesem Verfahren wird die neue Saat direkt in das frisch abgeerntete Stoppelfeld oder sogar in die noch stehende Vorkultur eingesät. Statt den Acker vor der Aussaat zu pflügen oder anderweitig zu bearbeiten, werden wie mit einem Pizzaschneider lediglich feine Schlitze in den Boden geritzt, in denen das neue Saatgut keimen kann.

Der Boden wird nur minimal geöffnet, um das Saatgut zu platzieren.

Abgestorbene Zwischenfrüchte und Erntereste bilden eine Mulchschicht. Der Acker liegt also zu keinem Zeitpunkt nackt da, der Boden ist durchgehend bedeckt.

Vielfältige Fruchtfolgen fördern die Bodengesundheit. Krankheitserreger werden unterdrückt, Nährstoffe zurückgeführt.

Die Vorteile liegen auf der Hand: Durch die Mulchschicht ist der Boden vor Erosion und Austrocknung geschützt. Und für die Betriebe ist die Direktsaat maximal effizient.

Dümichen rechnet vor: Seit er seinen Betrieb auf Direktsaat umgestellt hat, haben sich seine Betriebsausgaben drastisch reduziert. Insektizide und Fungizide nutze er nur noch im Notfall, in den meisten Jahren komme er inzwischen ganz ohne aus. Denn im ungestörten Boden können die Nützlinge sich besser einrichten und Schädlinge unter Kontrolle halten. Um das Bodenleben zu nähren, verteilt Dümichen außerdem große Mengen Kompost auf seinen Feldern. Seinen Düngemitteleinsatz habe er bereits halbiert. Sein Ziel ist es, ganz vom Kunstdünger wegzukommen.

Bloß auf ein Mittel bleibt er angewiesen: das umstrittene Totalherbizid Glyphosat, das Kritiker mit Krebserkrankungen und dem Rückgang der Artenvielfalt in der Agrarlandschaft in Verbindung bringen. Dümichen betont zwar, er benötige von Jahr zu Jahr auch immer weniger Glyphosat.

Doch CropLife, der Lobbyverband der agrochemischen Industrie, behauptet: „Die pfluglose Landwirtschaft ist abhängig von Herbiziden.“ Denn die Pflanzenvernichtungsmittel ermöglichen den Ackerbau mit minimalem mechanischem Eingriff in den Boden, indem unerwünschter Bewuchs nicht untergehoben, sondern totgespritzt wird. International ist meist von „no-till“ die Rede, also Landwirtschaft ohne jegliches Pflügen oder sonstige Bodenbearbeitung.

Seit die kraftstoffzehrenden Fahrten mit dem Pflug entfallen sind, verbraucht Dümichen nur noch halb so viel Diesel. Arbeitsgeräte wie Eggen und Grubber benötigt er nicht mehr, er hat sie verkauft. Stattdessen hat er sich eine spezielle Direktsaat-Maschine angeschafft, gebraucht importiert aus Brasilien. Dort boomt der pfluglose Ackerbau – und mit ihm das Geschäft mit den Herbiziden.

„Für jede geerntete Tonne Weizen
gingen bis zu zehn Tonnen Boden verloren.“

Rolf Derpsch, Pionier der Direktsaat in Lateinamerika

Einer der Wegbereiter der Direktsaat war Rolf Derpsch, der als Sohn deutscher Auswanderer in Chile zur Welt kam. Im Auftrag der deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) baute Derpsch ab 1968 im Süden Brasiliens, im Bundesstaat Paraná, an fünf Orten Versuchsstationen auf.

Die Böden galten als arm. Unser Auftrag bestand darin, sie für den Ackerbau produktiv zu machen.” Es waren die Anfangstage der Grünen Revolution. Eine ihrer Grundzutaten – Kunstdünger – lag säckeweise parat. Derpsch sollte lediglich noch die richtige Dosierung ermitteln.  

Heute gilt Paraná als Kornkammer Brasiliens, hier werden im großen Stil Exportgüter wie Mais, Soja, Baumwolle und Weizen angebaut. Was Derpsch jedoch Ende der 1960er-Jahre vorfand, war vernarbte Erde.

Unter der Militärdiktatur explodierte in Brasilien die Entwaldung, um Platz für die expandierende Agrarindustrie zu schaffen. Die gerodeten Flächen wurden intensiv gepflügt – mit verheerenden Folgen.


Wenn auf die lange Trockenzeit sintflutartiger Regen folgte, konnten die knochentrockenen Böden das viele Wasser nicht aufnehmen. „Das waren keine Erosionsrinnen, das waren Canyons“, erinnert sich Derpsch.

Ganze Äcker rutschten in der Regenzeit von den Hügeln. „Der komplette Oberboden war weg, nur noch nackter Fels. Derpsch stellte Berechnungen an: „Für jede geerntete Tonne Getreide gingen bis zu zehn Tonnen Boden verloren.



Was in Brasilien passierte, zeigt dieses Experiment der Universität Reading sehr deutlich: Im üppig bewachsenen Boden versickert das Wasser innerhalb weniger Sekunden. Je dürrer jedoch die Vegetation, je nackter und ausgetrockneter der Boden – desto undurchlässiger die Oberfläche. Ausgetrocknete Böden werden hydrophob, regelrecht wasserabweisend.

Die Folge: Das Wasser versickert nicht, sondern läuft oberflächlich ab. Je größer die Wassermassen, je steiler der Hang, desto mehr Boden wird weggespült.

Erosion ist kein unvermeidbares Naturereignis. Bodenverluste auf dem Acker sind nichts anderes als ein Symptom dafür, dass auf diesem Standort ein nicht angepasstes Anbausystem zum Einsatz gekommen ist, sagt Rolf Derpsch. Nicht die Natur, sondern der Mensch ist für die Erosion und ihre negativen Folgen verantwortlich.die Natur, sondern der Mensch ist für die Erosion und ihre negativen Folgen verantwortlich.”


Während seiner Aufenthalte an deutschen Agrarfakultäten Mitte der 1960er-Jahre hatte Derpsch Studien über die Direktsaat in den USA in die Hände bekommen. Dort hatte der Schrecken der Dust-Bowl-Jahre gezeigt, dass der Pflug – der bis dahin uneingeschränkt als zivilisatorische Errungenschaft der Menschheit gegolten hatte – schwerwiegende Probleme verursacht.

Als Rolf Derpsch 1967 die Geräte suchte, die er für sein Projekt nach Brasilien mitnehmen wollte, wurde er bei einer hessischen Firma fündig. So legten fünf Saatmaschinen Made in Germany den Grundstein für die Direktsaat in Lateinamerika.

Für das GTZ-Projekt zur Bekämpfung der Erosion in Paraná stellte ein brasilianisches Agrarforschungsinstitut die Flächen zur Verfügung, auf denen Derpsch ab 1971 seine ersten Versuche mit der Direktsaat durchführte. Die Effekte waren offensichtlich: Der Verzicht auf den Pflug stoppte die Erosion. So nahmen immer mehr Bauern aus der Umgebung die neue Methode auf. Wie schon zuvor in den USA, war die Direktsaat auch in Brasilien in ihren Anfangstagen eine Bewegung der Bauern, die sich aus ihrer Not befreiten.

Ab Mitte der 1970er-Jahre setzte Derpsch seine Arbeit in Paraguay fort, dort in enger Zusammenarbeit mit der Regierung. Zehntausende Kleinbauernfamilien im ganzen Land ließ er in Seminaren zur Anwendung der Direktsaat schulen. 

Derpsch erinnert sich lebhaft an einen Besuch von Norman Borlaug. Der Begründer der Grünen Revolution kam 1995 nach Brasilien und Paraguay. Er zeigte sich beeindruckt von der neuen Form des Ackerbaus, die er dort erlebte: Die Direktsaat ist wahrscheinlich die wichtigste Revolution in der Landwirtschaft am Ende dieses Jahrtausends.

Der Einzug von Glyphosat hat die Direktsaat 
erst preiswert gemacht.“

Heute ist Rolf Derpsch 85 Jahre alt. Rückblickend sagt er: „Bescheiden gesagt haben wir die Bedingungen für den Sojaboom geschaffen.“ Entscheidender als die Kunstdünger seien aber die Totalherbizide gewesen, insbesondere Glyphosat, das 1974 auf den Markt kam: „Da wurde Roundup direkt auf die Prärie gesprüht, schon war der nächste Acker fertig.“

Auch für Deutschland bestätigt das Bundesumweltministerium: Mit der Zunahme pflugloser Anbausysteme steigt die Nutzung von Glyphosat, das heute auf rund vierzig Prozent der deutschen Ackerflächen eingesetzt wird. Die letzte umfassende Erhebung des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2016 kam zu dem Ergebnis, dass nur rund ein Prozent der Ackerbaubetriebe in Deutschland konsequent auf Direktsaat ohne jede Bodenbearbeitung setzte. Etwa jeder dritte Betrieb verzichtete damals aber zumindest teilweise auf den Pflug, nutzte also Geräte zur flachen Bodenbearbeitung wie Grubber oder Eggen. „Diese Zahlen dürften allerdings von der Wirklichkeit überholt worden sein“, schreibt das Fachblatt „Land&Forst“ – „denn in vielen Regionen haben sich Landwirte aus pflanzenbaulichen und aus ökonomischen Gründen für die pfluglose Bodenbearbeitung entschieden.“ 

Weltweit ist die Direktsaat längst auf dem Vormarsch – vor allem in Trockengebieten, in denen produktiver Ackerbau ansonsten zunehmend unmöglich wird. Heute werden 220 Millionen Hektar Land, rund 15 Prozent der globalen Ackerflächen, pfluglos bewirtschaftet. China hat no-till” seit 2009 als festen Bestandteil seiner staatlich verordneten Agrarpolitik ausgerufen. In Ländern wie den USA, Brasilien, Argentinien oder Australien wird längst mehr als die Hälfte aller Flächen in Direktsaat bestellt.

Die glyphosatgetränkten Sojamonokulturen im mittleren Westen der USA oder dem abgeholzten Amazonas als Vorbild für nachhaltigen Ackerbau? Es ist komplizierter. Denn dass weltweit immer weniger gepflügt wird, ist auch ein Erfolg der Welternährungsorganisation FAO, für die der Verzicht auf Bodenbearbeitung das Fundament einer Ackerbauphilosophie namens „konservierende Landwirtschaft“ darstellt. Allerdings sei es nicht damit getan, auf Pflug, Grubber oder Egge zu verzichten und die Bodenbearbeitung durch Herbizide zu ersetzen. Die FAO hat drei Prinzipien definiert, mit denen die „konservierende Landwirtschaft“ zu einem nachhaltigen Anbausystem wird: Null-Bodenbearbeitung, permanent bedeckte Böden und vielfältige Fruchtfolgen. 

Der Boden braucht Schutz.

Pflanzen spenden Schatten und kühlen so den Boden. Sterben die Pflanzen, bilden sie eine Mulchschicht, die den Boden vor Wind und Regen, Frost und Hitze schützt.


Wurzeln lockern den Boden auf und durchlüften ihn. Manche Pflanzen wurzeln tief, andere flach. Ein Pilzgeflecht durchzieht den Boden und versorgt die Wurzeln mit Nährstoffen. 


Das beständige Graben der Regenwürmer verteilt Nährstoffe im Boden und schafft Poren und Gänge, durch die Wasser eindringen kann. 

Je mehr wir den Boden in Ruhe lassen, desto besser kann das Bodenleben all seine Aufgaben erfüllen.

Der Pflug ist eine Massenvernichtungswaffe.

Theodor Friedrich, ehemaliger Botschafter der FAO

Die Böden der Erde sind noch zu retten, davon ist Theodor Friedrich überzeugt. Die konservierende Landwirtschaft ist keine Theorie, sie ist Praxis, weltweit in allen Klimazonen erprobt. Er muss es wissen, denn er hat den Begriff mit erfunden. Bis zu seiner Pensionierung im vergangenen Jahr war Friedrich als Botschafter der FAO für zukunftsfähige Ernährungssysteme in 75 Ländern unterwegs – von Nicaragua über Burkina Faso bis nach Kasachstan und Nordkorea. In Ländern des globalen Südens würden vor allem Kleinbäuerinnen und Kleinbauern von den Methoden der konservierenden Landwirtschaft profitieren, sagt Friedrich. Dafür sind nicht einmal Maschinen nötig, denn die Direktsaat lässt sich auch mit einfachen Handgeräten anwenden. Die reichen Industrienationen jedoch würden im Zuge ihrer sogenannten Entwicklungszusammenarbeit seiner Erfahrung nach weiterhin am liebsten Traktoren und Pflüge in den globalen Süden liefern – und damit ihre zerstörerische Vorstellung von Ackerbau exportieren.

Während der Pflug die Böden oberflächlich erodieren lässt, entfalten die immer größeren und immer schwereren Maschinen ihre schädliche Wirkung bis in die Tiefe. Friedrich geht davon aus, dass unsere Ackerböden flächendeckend und metertief verdichtet sind.Ein moderner Rübenroder etwa wiegt nach der Ernte voll beladen über fünfzig Tonnen. Fahrzeuge mit einem solch enormen Gewicht dürfen gar nicht mehr auf die Straße, zu groß wären die Schäden am Asphalt. Auf dem Acker hingegen dürfen Landwirte mit solch schwerem Gerät nach Herzenslust wühlen – angespornt durch martialische Namen wie Tiger S6, ein Rübenroder, oder Warrior, ein Traktor in limitierter Camouflage-Lackierung. Überdimensionierte Prestigeobjekte einer globalen Milliardenindustrie, deren Landmaschinen, so sieht es Friedrich, zum Ende der Landwirtschaft selbst beitragen.

Friedrich erzählt, er sei als Lobbyist der agrochemischen Industrie diffamiert worden, sogar innerhalb der FAO. Ein Vorwurf, den er weit von sich weist. Er argumentiert, dass der Einsatz von Pestiziden rückläufig sei, sobald die Bodenbearbeitung entfalle. Bei guter Implementierung – vielfältigen Fruchtfolgen, vielen Zwischenfrüchten – spritzen die Landwirte, die konservierende Landwirtschaft betreiben, schon nach kurzer Zeit kaum noch Pestizide. Nicht, weil sie nicht dürfen – sondern, weil sie nicht müssen.

Stellt sich also die Frage, was eigentlich gemeint ist, wenn von der oft beschworenen Agrarwüste die Rede ist: Auf die pfluglosen Anbausysteme mit permanenter Bodenbedeckung trifft diese Beschreibung kaum zu“, sagt Friedrich. Ein gepflügter, nackter Acker hingegen komme dem Anblick einer Wüste sehr nahe. Und eben dieser Anblick zeigt sich Jahr für Jahr ausgerechnet im Bio-Landbau. Eine große Mehrheit der Biobetriebe setze noch immer geradezu zwanghaft auf den Pflug, so Friedrich. Müssen wir also letztlich eine Abwägung treffen: Weniger Erosion dank pflugloser Landwirtschaft – und dafür den Einsatz von Herbiziden in Kauf nehmen?

Herbizide seien aus der konventionellen Landwirtschaft nicht mehr wegzudenken, sagt Friedrich – „ob mit oder ohne Pflug. Doch in der konservierenden Landwirtschaft, die ohne jede Bodenbearbeitung auskommt, lasse sich der Einsatz der Unkrautvernichter stark reduzieren, argumentiert Friedrich. Einerseits würden durch den Verzicht auf Bodenbewegung nicht ständig neue Samen an die Oberfläche befördert und zur Keimung angeregt. Zweitens sinkt der Unkrautdruck durch eine permanente dichte Mulchdecke, Zwischenfrüchte und vielseitige Fruchtfolgen. Zuletzt bestehe die Möglichkeit, dennoch aufkommende Beikräuter mechanisch zu bekämpfen – mit Geräten, die nicht in den Boden eingreifen.

Die agrochemische Industrie jedoch habe wenig Interesse an einem solchen Anbausystem, das immer weniger von ihren Mitteln benötigt. „Firmen wie Bayer – und der Vorläufer in dieser Frage, Monsanto – haben durchaus große Hoffnungen in die Nullbodenbearbeitung gesetzt.“ Sie hätten sich erhofft, dass eben das Glyphosat das allein selig machende Mittel wäre, erklärt Friedrich, „insbesondere in Kombination mit herbizidresistenten Kulturen, die zu einem regelrechten Verkaufsboom von Glyphosat führten und ihren Teil zu den derzeitigen Problemen mit dem Mittel beigetragen haben.“

Tatsächlich erlebte die Direktsaat einen enormen Schub, als Monsanto ab Mitte der 90er-Jahre gentechnisch verändertes Saatgut auf den Markt brachte, das gegen die Herbizide des Konzerns resistent war. Vor allem der Anbau von Mais und Soja in den USA und in Lateinamerika wurde mit diesem neuen Paket aus Herbiziden und resistenten Sorten unschlagbar effizient: Unerwünschte Vegetation ließ sich nun totspritzen, während die genmanipulierten Nutzpflanzen unbeschadet weiterwuchsen.

So nutzte Monsanto die „konservierende Landwirtschaft“, die Friedrich im Namen der FAO weltweit als nachhaltige Ackerbauphilosophie bewarb, für ganz eigene Zwecke. Der Konzern beteiligte sich ab Mitte der 90er-Jahre an Dutzenden Projekten in Ländern des globalen Südens, in denen staatliche Entwicklungshilfeorganisationen und private Stiftungen das neue Paket aus Direktsaat und herbizidresistenten Sorten verbreiteten. Allein in Ghana vermittelte Monsanto um die Jahrtausendwende rund 100.000 Kleinbäuerinnen und Kleinbauern die Grundlagen der Direktsaat. Forschende interviewten damals lokale Händler, die den neuen Direktsäern die notwendigen Spritzmittel verkauften. Zwei Drittel der Händler gaben an, dass sich ihre Herbizidverkäufe innerhalb kürzester Zeit verdoppelt oder gar verdreifacht hatten.

Mit konservierender Landwirtschaft, wie sie die FAO definiert, hätten diese Projekte jedoch nichts zu tun gehabt, kritisiert Friedrich. Denn von Fruchtfolgen oder Bodenbedeckung sei keine Rede gewesen. So habe Monsanto zwar den Ackerbau ohne Bodenbearbeitung vorangebracht, jedoch ausschließlich in Kombination mit Glyphosat und resistenten Pflanzensorten. Also das alte Paradigma der Grünen Revolution.

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Grüne Revolution 2.0

Genveränderte Bodenmikroben, das „intelligente Feld“ und fragwürdige CO2-Zertifikate: Die Agrarindustrie entdeckt den Boden als Produkt.

Kapitelübersicht

Kapitel I

Bodenlos

Die Böden zu bewahren ist nicht nur der Schlüssel im Kampf gegen den Hunger. Gesunde Böden wappnen uns auch gegen Klimakrise, Wassernot und Artensterben.

Kapitel II

Ausgelaugt

Der Pflug und die Kunstdünger steigerten die Erträge drastisch, doch längst verwüsten sie die Erde. Im Zeitalter der Bodenkrise müssen wir den Ackerbau von Grund auf neu denken.

Kapitel III

Grüne Revolution 2.0

Genveränderte Bodenmikroben, das „intelligente Feld“ und fragwürdige CO2-Zertifikate: Die Agrarindustrie entdeckt den Boden als Produkt.

Kapitel IV

Wiederbelebt

Die Industrie bremst, die Politik vertagt den Schutz der Böden. Doch längst zeigt sich auf immer mehr Feldern, wie sie aussehen kann: die bodenaufbauende Landwirtschaft der Zukunft.

von Marius Münstermann
Videos & Fotos Christian Werner
Illustrationen Erik Tuckow
Redaktion Wolfgang Hassenstein

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Pestizidatlas - Daten und Fakten zu Giften in der Landwirtschaft (2022)

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Florian Schwinn - Rettet den Boden! Warum wir um das Leben unter unseren Füßen kämpfen müssen

Soilcast - Podcast zum Themebereich Boden, Umwelt, Klima

Soilify - "Die Plattform zur Förderung der regenerativen Landwirtschaft in Deutschland, Österreich und Schweiz"

Joshua Tickell, Rebecca Harrell - Kiss the Ground (Dokumentarfilm)

Umweltbundesamt - Kommission Bodenschutz