BODEN

BURNOUT

Um die Böden der Erde zu retten
– und damit uns selbst –
müssen wir unsere Landwirtschaft radikal ändern 

von Marius Münstermann
Fotos & Videos Christian Werner
Illustrationen Erik Tuckow


Für diese multimediale Reise in den Untergrund
empfehlen wir Vollbildmodus und Kopfhörer.

Kapitel I

Bodenlos

„Die ganz dünne Decke zwischen dem Grundwasserspiegel und dem grünen Pflanzenkleid,
das ist der wirkliche Reichtum eines Landes.“

Raoul H. Francé, Botaniker (1874 – 1943)

Die Menschen hatten guten Grund, ihren Planeten nach der dünnen Haut zu benennen, die ihn umgibt: Erde. Sie brachte Pflanzen zu ihrer Ernährung hervor und solche, aus denen sie Arzneien gewannen oder Fasern für ihre Kleidung und ein Dach über dem Kopf. Bäume lieferten ihnen Bau- und Feuerholz. Erda, so der germanische Ursprung des Wortes, steht für den Ort, an dem die Vorfahren ruhen und dem alles Lebendige entspringt. 

Adam, der Name des ersten Menschen, den Gott in der biblischen Erzählung aus Lehm vom Acker formt, bedeutet Mensch, abgeleitet von adāmā, dem hebräischen Wort für Erde. Auch die lateinischen Wörter für Mensch, Homo, und den Boden, Humus, haben denselben Ursprung. In fast allen Schöpfungsmythen entstammt der Mensch einem paradiesischen Garten, auf allen Kontinenten prägten Erdgöttinnen die Glaubensvorstellungen der Menschen. Und in vielen ackerbautreibenden Kulturen galt die Ackerfurche als Symbol der Fruchtbarkeit. Schließlich war es der Erdboden, in den hinein die Menschen die Samen jener Pflanzen säten, die ihnen Nahrung versprachen.

Ob Obst, Gemüse und Getreide, die unmittelbar der menschlichen Ernährung dienen, oder Futtermittel wie Gras und Soja, die im Trog unserer Nutztiere landen: Satte 95 Prozent aller Nahrungsmittel haben ihren Ursprung im Boden. Doch ausgerechnet mit der Art und Weise, wie wir unsere Lebensmittel erzeugen, ziehen wir uns im wörtlichen Sinne selbst den Boden unter den Füßen weg. Die Böden werden versiegelt und verdichtet, ausgelaugt und umgepflügt, mit Agrarchemikalien überschwemmt – und der Erosion preisgegeben.

Der Boden unter unseren Füßen ist über Jahrtausende gewachsen.

Solange Wälder und Graslandschaften das Angesicht der Erde prägten, schützte und nährte eine beständig wachsende Humusschicht den Boden.

Bis die Menschheit den Boden umbrach,
um Äcker anzulegen.

Mit der Intensivierung der Landwirtschaft
stiegen auf den noch humusreichen Böden die Ernteerträge.

Wir ernten immer mehr.
Auf immer größeren Flächen.

Die Maschinen werden größer,
die Fruchtfolgen kürzer.

Die Humusschicht schwindet, der Boden verarmt.
Regen und Wind tragen ihn davon.

Noch sechzig Ernten, dann ist Schluss

Der Verlust der Böden begann nicht erst, als die Lebensmittelproduktion zu einer Industrie wurde. Landwirtschaft ist per Definition ein Eingriff in die Natur. Alles begann, als die Menschen vor rund 12.000 Jahren entlang der großen Flüsse die ersten Felder anlegten. Die alljährlichen Überschwemmungen an Euphrat und Tigris, am Nil und am Indus, spülten fruchtbare Sedimente aus den Bergen in die klimatisch begünstigten Täler. Bald konnten die Menschen dort Nahrung im Überfluss ernten. Aus den Wildgräsern züchteten sie Weizen oder Reis – Getreide, das sich gut lagern und rationieren ließ. So schuf der Ackerbau nicht nur die Grundlage für die ersten städtischen Zivilisationen. Die Landwirtschaft begründete zugleich die Macht der ersten Herrscher. Wer die Kornspeicher kontrollierte, erlangte Macht über die Menschen. Mit der nun sesshaften, wachsenden Bevölkerung stieg auch der Bedarf an Ackerland, sodass bald neuer Boden außerhalb der Flussebenen umgebrochen werden musste. Wälder wurden gerodet. Auf den so gewonnenen Flächen betrieben die Menschen so lange Ackerbau, bis der Boden nichts mehr hergab. Dann zogen sie weiter, um noch mehr Land urbar zu machen.

Die Natur kann mit diesem Raubbau längst nicht mehr Schritt halten. Denn nicht nur die Flächen sind begrenzt, auch der Boden ist eine endliche Ressource. Peak Soil ist längst überschritten. Je nach Klima, Witterung und Geologie dauert es bis zu fünfhundert Jahre, ehe sich aus verrottender Biomasse und zersetztem Gestein auch nur ein Zentimeter fruchtbarer Oberboden bildet. Eine Landwirtschaft, die den Boden ab- statt aufbaut, steuert auf eine bodenlose Zukunft zu.

Seit dem Beginn der industrialisierten Landwirtschaft hat sich die Degradation, also die Verschlechterung der Böden, rapide verschärft. In den vergangenen 150 Jahren hat die Erde etwa die Hälfte ihres Oberbodens verloren. Mit Blick auf die verbleibenden Ackerflächen sagte eine Vertreterin der Welternährungsorganisation schon 2014: Noch sechzig Ernten, dann ist Schluss.” Wirklich seriös lässt sich das Ende der Landwirtschaft mit derart absoluten Zahlen nicht beziffern. Im gemäßigten Klima Mitteleuropas etwa zieht sich der Verfall der Böden länger, in den Tropen geht es oft ganz schnell.

Sicher ist: Um die wachsende Weltbevölkerung zu ernähren, müssen die Ernten eigentlich steigen. Laut World Research Institute um fünfzig Prozent in den kommenden dreißig Jahren. Doch die Prognosen sagen nicht mehr, sondern dreißig Prozent weniger Ernte voraus – wegen zunehmender Dürren und Starkregen. Wir brauchen Böden, die die Extreme der Klimakrise abpuffern. Allerdings gelten weltweit rund ein Drittel der landwirtschaftlich genutzten Böden schon jetzt als geschädigt. Die Welternährungsorganisation warnt: Verschlechtert sich der Zustand der Böden weiter in diesem Tempo, könnten es bis Mitte des Jahrhunderts neunzig Prozent sein. Von diesen kaputten Böden wollen dann zehn Milliarden Menschen genug ernten.

Allein in den vergangenen vierzig Jahren hat die Welt rund ein Drittel ihrer landwirtschaftlich nutzbaren Flächen verloren. Wären diese Böden anders bewirtschaftet worden, könnten davon 1,5 Milliarden Menschen mehr ernährt werden also fast doppelt so viele wie die rund Achthundert Millionen Menschen, die heute täglich hungern. Doch auf diesem Land gedeiht nichts mehr von Wert. Der fruchtbare Oberboden, diese dünne Schicht, in der unsere Ackerpflanzen gedeihen, ist unweigerlich verschwunden. Am Ende der Degradation steht die Erosion: Wenn den Boden nichts mehr hält, wird er vom Wind verweht und vom Regen fortgespült.

Deutschlandkarte mit Hessen was runterrutscht.

Durch Erosion gehen weltweit jedes Jahr rund 24 Milliarden Tonnen Boden verloren – das ist in etwa so viel, als würde man das Bundesland Hessen einen Meter tiefer graben.

Durch Erosion gehen weltweit jedes Jahr rund 24 Milliarden Tonnen Boden verloren – das ist in etwa so viel, als würde man das Bundesland Hessen einen Meter tiefer graben.

Wem diese Vorstellung zu abstrakt bleibt, dem hilft womöglich ein gedanklicher Spaziergang raus aufs Land: Dort liegen viele Feldwege höher als die Äcker. Um mit dem Traktor auf sein Feld zu fahren, muss der Bauer also hinabfahren, nicht selten einen halben Meter oder mehr. Die tiefergelegten Äcker sind das Ergebnis jahrhundertelanger Bodenbearbeitung und der daraus resultierenden Erosion.

Ein Traktor fährt hinab auf einen Acker

Niedergang über Generationen: Im gemäßigten Klima Mitteleuropas erodieren die Böden langsam aber stetig.

Niedergang über Generationen: Im gemäßigten Klima Mitteleuropas erodieren die Böden langsam aber stetig.

Hierzulande sind die Böden mächtig, ihr Kollaps erstreckt sich über Generationen. Doch am Ende ist das Ergebnis dasselbe: Die letzte Stufe der Degradation ist die Wüste. In Südeuropa breitet sie sich scheinbar unaufhaltsam aus, die Ernteerträge in vielen Regionen brechen schon heute ein. Die unheimliche Wechselwirkung aus Klimakrise, Wasserknappheit und der Übernutzung der Böden ist vielerorts längst Realität. Zwei Drittel Spaniens erodieren.

In Italien drückt Salzwasser aus der Adria durch das ausgetrocknete Po-Delta zwanzig Kilometer weit ins Inland. Eines der wichtigsten Anbaugebiete des Landes versalzt. Der Hauptgrund für die Versalzung aber ist die künstliche Bewässerung der Landwirtschaft, für die schon heute 70 Prozent des weltweiten Süßwassers verbraucht werden. Auch Süßwasser enthält Salze in geringen Mengen. Und die lagern sich ab, wenn das Wasser verdunstet. In Extremfällen überzieht eine weiße Kruste den Boden, hier wächst nichts mehr. Der Zweck der Bewässerung – das Land fruchtbar zu machen – hat sich in sein Gegenteil verkehrt. Der Gemüsegarten Europas zerfällt zu Staub.

Europa zerfällt zu Staub

Weite Flächen Europas erodieren

Weite Flächen Europas erodieren

Es wäre nicht der erste Niedergang dieser Art. Der Geologe David R. Montgomery hat das in seinem Buch Dreck – Die Erosion der Zivilisationen” eindrücklich beschrieben. Von den ersten Hochkulturen im ehemals fruchtbaren Halbmond, wo heute kaum mehr als Wüste ist, bis zu den Weltreichen der Römer und Maya: Ganze Zivilisationen sind mit ihren Böden zu Grunde gegangen. Wenig spricht dafür, dass unser industrielles Agrarsystem widerstandsfähiger ist. Wir ernähren immer mehr Menschen mit einem System, das auf der Ausbeutung einer endlichen Grundlage basiert. Boden ist, wie es der frühere Umweltminister Klaus Töpfer formuliert hat, „die vergessene ökologische Ressource par excellence.“

Die Krise der Böden ist eng mit den anderen Krisen des Anthropozäns verknüpft. Gesunde Böden speichern enorme Mengen an Treibhausgasen. Als größte terrestrische Kohlenstoffsenke binden sie fast doppelt so viel Kohlenstoff wie alle Wälder, nur die Weltmeere speichern mehr. Doch gegenwärtig ist die Landwirtschaft statt Klimaretter eher ein Klimakiller: Durch Überdüngung und intensive Bodenbearbeitung entweichen massenhaft Klimagase in die Atmosphäre.

Die zunehmenden Dürren trocknen die Böden aus. So können die Böden immer weniger Wasser speichern. Ein Teufelskreis.

Gesunde Böden hingegen saugen Wasser auf wie ein Schwamm. Für Dürreperioden speichern sie es, bei Starkregen verhindern sie Überschwemmungen. So tragen sie zu klimaresilienten Landschaften bei.

Neueste Studien gehen davon aus, dass 59 Prozent aller Arten unter der Erde leben.

Neueste Studien gehen davon aus, dass 59 Prozent aller Arten unter der Erde leben.

Das Massensterben der Arten wütet auch im Boden, diesem verborgenen, aber artenreichsten Ökosystem unserer Erde. Das Pflügen, die Pestizide und die Überdüngung schaden dem Bodenleben. Je dezimierter das Bodenleben, desto ärmer der Boden. Wie viel Ausfall verträgt das Ökosystem Boden, bevor das Gefüge zerfällt?

Die Böden zu bewahren wäre also nicht nur der Schlüssel im Kampf gegen den Hunger, sondern wappnet uns auch gegen Klimakrise, Wassernot und Artensterben. Deshalb ist dies nicht nur eine Geschichte des Niedergangs, sondern auch eine Suche nach Alternativen. Gibt es Agrar- und Ernährungssysteme, die eine nachhaltige Bodennutzung ermöglichen? So existentiell die Krise der Böden auch ist – viele Lösungen sind längst da. Auch davon erzählen die Bauern und Forscherinnen, die Politikerinnen und die Lobbyisten der Agrarindustrie, die in den folgenden Kapiteln über Äcker und Felder, in Gewächshäuser und Labore sowie durch die Irrwege der europäischen Bodenpolitik führen.

"Unser Ziel ist nicht, der nächste
Großbetrieb zu werden. Mir wäre es viel lieber,
wenn in jedem Dorf Gärten wie dieser entstehen."

Jasper de Wit, Gemüsebauer

Im Weserbergland liegen die Felder wie ein Flickenteppich, ausgebreitet in weiten Tälern. Die Böden sind lehmig und tiefgründig. Im Kreis Höxter, der die geringste Bevölkerungsdichte im ansonsten dicht besiedelten Nordrhein-Westfalen hat, liegt das Dorf Godelheim. Auf der anderen Seite der Weser beginnt schon Niedersachsen, aber da ist auch nicht viel mehr los. Mittelgebirge, Urlaubsregion, Bauernland. Das Wort Agrarindustrie scheint hier weit weg, zu romantisch wirkt die Landschaft mit ihren vielen Fachwerkgehöften.

Einem dieser Höfe hauchen Anna Lammert und Jasper de Wit seit 2017 neues Leben ein. Im altehrwürdigen Haupthaus verputzten sie die Wände mit Lehm, die Nebengebäude und Stallungen brauchten ein neues Dach. Dank vieler helfender Hände aus der Nachbarschaft konnte das junge Paar einen landwirtschaftlichen Betrieb aufbauen, der zum Vorbild für viele weitere geworden ist. Sie gehörten zu den ersten, die in Deutschland einen Marktgarten eröffneten. Die market garden-Bewegung hat ihren Ursprung in Nordamerika, in den letzten Jahren entstanden weltweit Tausende solcher Betriebe. Was sie eint, ist ihre Liebe zum Boden. Sie bearbeiten ihn nach dem aktuellen Stand der Forschung: nämlich gar nicht. Ihre Prämisse: no dig”, kein Umgraben. Den Boden nicht pflügen, fräsen, wenden oder anderweitig stören. Sondern ihn aufbauen.

Auf kaum mehr als einem halben Hektar gedeihen hier mehr als fünfzig Obst- und vor allem Gemüsesorten. Der Garten ist das Ergebnis vieler Philosophien, an denen sich Jasper de Wit orientiert: Da ist zunächst die Permakultur, ein Begriff, unter dem seit den 1970er Jahren altes, indigenes Wissen für ein nachhaltiges Leben in der Moderne weiterentwickelt wird. Das gärtnerische Ideal der Permakultur ist ein permanent bewachsenes, möglichst diverses, sich selbst stabilisierendes Ökosystem. Sehr ähnlich ist der Grundgedanke der regenerativen Landwirtschaft: Lebensmittel zu produzieren und dabei die Landschaft wiederzubeleben, statt sie auszulaugen. Das Ergebnis dieser Fusion nennt Jasper de Wit biointensiven Gemüseanbau. Bio und intensiv, schließt sich das nicht aus?” Es ist eine rhetorische Frage, die er gerne stellt, wenn er Besucher durch seine Beetreihen und Gewächshäuser führt.

Jasper de Wit sagt: Weil unser Boden immer lebendiger und gesünder wird, schmeckt auch das Gemüse immer besser.” Er macht eine einfache Gleichung auf: Gesunder Boden, gesunde Pflanzen, gesundes Essen, gesunde Menschen. 

Tatsächlich hat das Leben im Boden einen wesentlichen Einfluss auf Geschmack und Aroma unseres Essens. Forschende in Italien verglichen etwa Weizenmehle. Im Geschmacksprofil der Brote, die daraus gebacken wurden, konnten sie signifikante Unterschiede nachweisen – je nachdem, ob der Weizen vor der Saat mit nützlichen Bodenmikroben beimpft wurde oder nicht. Brot aus dem beimpften Weizen wies eine höhere Geschmacksintensität, eine bessere Elastizität und eine bessere Krumenstruktur auf. Diese Eigenschaften wurden nicht nur von einer Gruppe speziell ausgebildeter Lebensmittelsensoriker wahrgenommen, sondern ließen sich auch durch eine elektronische Nase bestätigen, ein Gerät, mit dem sich Gerüche messen lassen.

Andere Studien wiesen nach, dass schmackhaftes Gemüse besonders viele sekundäre Pflanzenstoffe enthält, die sich positiv auf die menschliche Gesundheit auswirken. Doch von solch nahrhaftem Gemüse gibt es immer weniger, die Nährstoffdichte der erzeugten Lebensmittel sinkt. Wir erzeugen zwar mehr Kalorien als je zuvor, doch das so produzierte Essen enthält heute teils deutlich weniger Vitamine, Mineralien, Proteine und andere Nährstoffe als noch vor wenigen Jahrzehnten. Ein Forschungsteam verglich Daten des US-amerikanischen Landwirtschaftsministeriums im Zeitraum von 1950 bis 1999. Ergebnis: In allen 43 untersuchten Gemüsearten waren die Gehalte von sechs Nährstoffen teils deutlich zurückgegangen. Im Durchschnitt enthielt das Gemüse am Ende des Jahrtausends sechs Prozent weniger Proteine und bis zu 38 Prozent weniger Vitamin B₂ als zu Beginn der Aufzeichnungen. Weitere Studien kommen zu ähnlichen Ergebnissen auf allen Erdteilen. Zugespitzt könnte man sagen: Heute muss man zwei Gurken essen, um dieselben Mengen an Spurenelementen zu sich zu nehmen, die noch vor wenigen Jahrzehnten mit dem Verzehr von nur einer Gurke gedeckt waren.

Die Nährstoffdichte von zwei Gurken (1950 vs. 2000) im Vergleich

Wer ausgewogen isst, nimmt auch heute noch genug Nährstoffe zu sich. Doch nicht alles, was satt macht, ist auch wirklich nahrhaft. Forschende warnen vor einer schleichenden Gesundheitskrise durch einen chronischen Mangel an Vitaminen und Mineralstoffen. Mehr als zwei Milliarden Menschen weltweit leiden bereits unter „hidden hunger, dem verborgenen Hunger.

Wer ausgewogen isst, nimmt auch heute noch genug Nährstoffe zu sich. Doch nicht alles, was satt macht, ist auch wirklich nahrhaft. Forschende warnen vor einer schleichenden Gesundheitskrise durch einen chronischen Mangel an Vitaminen und Mineralstoffen. Mehr als zwei Milliarden Menschen weltweit leiden bereits unter „hidden hunger, dem verborgenen Hunger.

Einige Studien machen vor allem moderne Züchtungen für diesen Nährstoffrückgang verantwortlich. Die neuen Sorten wachsen schneller und größer, sie sind süßer oder saftiger. Ihr Nährstoffgehalt aber hat bei dieser Entwicklung nicht mitgehalten.

Die Verarmung der Böden habe jedoch ebenso einen großen Anteil am Nährstoffrückgang, betonen andere Forschende. Eine Studie aus dem Fachblatt Nutrients von 2020 machte die ausgelaugten Böden sogar mit verantwortlich für ein weit verbreitetes Gesundheitsproblem: den Magnesiummangel, unter dem fast die Hälfte der US-Bevölkerung leidet. Mögliche Folgen: Bluthochdruck, Diabetes und neurologische Störungen.

Umgekehrt gilt aber offenbar ebenso: Sind die Böden gesund, ist auch der Mensch gesund. Dass Kinder, die im Dreck wühlen und dabei mit Bodenmikroben in Kontakt kommen, ein stärkeres Immunsystem entwickeln, ist seit Langem bekannt. Doch das Leben im Boden beeinflusst die menschliche Gesundheit womöglich noch deutlich stärker als bislang angenommen. Forschende der Universität für Bodenkultur in Wien beschreiben in einer Studie von 2019 ausführlich, wie sich im Laufe der Evolution eine enge Verbindung zwischen dem Mikrobiom im Boden und dem Mikrobiom des menschlichen Darms entwickelt hat. Seit die Menschen jedoch immer weniger Kontakt zum Boden haben und Hygienemaßnahmen, der Einsatz von Antibiotika und eine ballaststoffarme Ernährung mit verarbeiteten Lebensmitteln zunehmen, gebe es immer weniger nützliche Mikroben im menschlichen Körper. Gleichzeitig ist in vielen ländlichen Gebieten ein Verlust der Artenvielfalt im Boden zu beobachten, schreiben die Forschenden aus Wien und machen dafür den zunehmenden Einsatz von Agrochemikalien, die verschwindende pflanzliche Artenvielfalt und rigorose Bodenbewirtschaftungspraktiken verantwortlich. Diese Entwicklungen gehen einher mit einer Zunahme von Zivilisationskrankheiten, die mit dem menschlichen Darmmikrobiom zusammenhängen. Ihrer Hypothese folgend müssten das Mikrobiom im menschlichen Darm sowie das Mikrobiom im Boden und an den Wurzeln von Pflanzen als Superorganismen betrachtet werden, die sich durch engen Kontakt gegenseitig mit Inokulationsmaterial, Genen und wachstumsfördernden Molekülen versorgen.

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Leben im Untergrund

Wenn es um Artenreichtum geht, kommen uns als erstes Regenwälder oder Korallenriffe in den Sinn. Der vielfältigste Lebensraum aber liegt direkt zu unseren Füßen. In einer Hand voll gesunder Erde gibt es mehr Lebewesen als Menschen auf der Welt. Myriaden von Bakterien, Pilzen und Algen, von Würmern, Käfern, Asseln, Springschwänzen, Nematoden und anderen Organismen bilden ein hochkomplexes Ökosystem, das Edaphon. Zusammengenommen bilden all diese kleinen und großen Bodenlebewesen eine beachtliche Masse: bis zu 15 Tonnen Lebendgewicht unter einem Hektar Land.

Querschnitt mit 20 Kühen drauf und Bodenqorganismen im Boden

Das Bodenleben unter einem Hektar gesundem Grünland bringt in etwa so viel Gewicht auf die Waage wie zwanzig Kühe, die auf der selben Fläche grasen.

Das Bodenleben unter einem Hektar gesundem Grünland bringt in etwa so viel Gewicht auf die Waage wie zwanzig Kühe, die auf der selben Fläche grasen.

In einem gesunden Boden halten sich Nützlinge und Schädlinge die Balance. Ist das Bodenleben gesund und vielfältig, sind Pflanzen weniger anfällig für Krankheiten und Fraßschäden. Doch all diese Organismen sind nicht bloß ein Hinweis auf einen gesunden Boden – letztlich sind sie es, die das tote Gestein und die sterblichen Überreste von Pflanzen und Tieren überhaupt erst in einen fruchtbaren Boden verwandeln.

Gemeinsam zersetzen sie organisches Material wie Laub, Stroh oder abgestorbene Wurzeln in seine Einzelteile: jene Mineralien wie Phosphor oder Kalium, die Pflanzen für ihr Wachstum benötigen. Diese Nährstoffe werden erst durch die Verdauungsarbeit der Bodenorganismen für die Pflanzen verfügbar. Die Bodenlebewesen füttern die Pflanzen regelrecht. Dafür siedeln sich etwa Mykorrhiza-Pilze und andere Organismen in der Rhizosphäre an, also in der Nähe der Wurzeln oder sogar an und in ihnen. Im Gegenzug für die Nährstoffe, die sie den Pflanzen bereitstellen, erhalten die Bodenlebewesen energiereiche Wurzelausscheidungen wie Kohlenstoffverbindungen und Aminosäuren, die sie selbst nicht herstellen können. Stirbt eine Pflanze, wird sie vom Bodenleben zersetzt und der Kreislauf beginnt von vorn.

Humose Böden sind die größte terrestrische Kohlenstoffsenke, nur die Weltmeere speichern mehr Klimagase. Kohlenstoff ist die Ernährungsgrundlage für das Bodenleben. Ihn beziehen die Bodenorganismen entweder aus totem organischen Material oder von lebenden Pflanzen, die Fotosynthese betreiben. Einen Teil des dabei entstehenden Zuckers – energiereiche Kohlenstoffverbindungen – geben die Pflanzen über ihre Wurzeln an die Mikroorganismen im Boden ab. Ein Teil davon wird vom Bodenleben verstoffwechselt und als Kohlendioxid ausgeatmet, er entweicht zurück in die Atmosphäre. Der Rest aber wird im Verdauungsapparat von Würmern, Asseln und anderen Organismen in stabilere Kohlenstoffverbindungen umgewandelt, mit Tonpartikeln verklebt und im Boden eingelagert: im Humus, der fruchtbarsten Bodenschicht voll organischer Substanz.

Querschnitt vom Boden mit einem Humus-Speicher. Oben auf dem Boden verleirt eine Pflanze ihre Blätter.

Die Bodenorganismen zersetzen abgestorbene Biomasse zu Humus. Der wirkt wie ein Schwamm. Nur dort, wo bereits Feuchtigkeit vorhanden ist, kann Wasser gut aufgenommen werden. Humose Böden speichern außerdem Kohlenstoff und Nährstoffe.

Die Bodenorganismen zersetzen abgestorbene Biomasse zu Humus. Der wirkt wie ein Schwamm. Nur dort, wo bereits Feuchtigkeit vorhanden ist, kann Wasser gut aufgenommen werden. Humose Böden speichern außerdem Kohlenstoff und Nährstoffe.

Wenn sich Regen ankündigt und der Luftdruck sinkt, öffnen sich die Poren des Bodens. Ein gesunder, humoser Boden nimmt Regenwasser auf und speichert es für die Pflanzen. Manche Tiere wie Regenwürmer graben Gänge und schaffen Poren, durch die Wasser besser einsickern kann. Andere Organismen wiederum filtern und reinigen das eindringende Wasser. So ermöglichen gesunde Böden neben der Nahrungsmittelproduktion noch viele weitere Funktionen, sogenannte Ökosystemleistungen.

Die Wissenschaft begreift erst allmählich, welche Aufgaben all die Lebewesen unter der Erde im Detail erfüllen. Wir kennen weniger als zwei Prozent der Arten mit Namen, die meisten sind noch gar nicht beschrieben und bestimmt”, sagt Nico Eisenhauer, der am Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung in Bad Lauchstädt bei Leipzig zum Leben im Boden forscht.

Das Bodenleben ist wie eine riesige Bibliothek.
Wir haben erst einige wenige Bücher gelesen,
ein paar Seiten geblättert. Und währenddessen
brennt die Bibliothek schon lichterloh.

Nico Eisenhauer, Bodenökologe

Eisenhauer dokumentiert ein kaum beachtetes Massensterben. Am Rande von Bad Lauchstädt erforscht der 43-Jährige, wie sich die Landnutzung auf das Bodenleben auswirkt. Unter dem Projektnamen Ökosysteme der Zukunft” untersucht er seit zehn Jahren die Böden in einer Freiland-Versuchsanordnung: parzellierte Acker- und Grünlandstreifen von 16 mal 24 Metern, alle so bewirtschaftet, wie es hier in der Region üblich ist: Pflügen, Pestizide und Mineraldünger auf dem Acker; Düngen mit Gülle auf dem Grünland, dessen schnell wachsende Gräser drei Mal im Jahr gemäht und zu Tierfutter verarbeitet werden. Zum Vergleich das Ganze noch mal in Bio: Ackerbau mit weniger Spritzmitteln und ohne Kunstdünger; eine ungedüngte Wiese mit vielen Wildkräutern und Schafen statt Mähbalken.

Der Dauerversuch in Bad Lauchstädt ist das weltweit größte Freilandexperiment zu den Auswirkungen der Klimakrise auf die Landwirtschaft. Dafür wurden über den Teststreifen Stahlträger installiert, die das Testgelände wie ein riesiges Gewächshaus überspannen. 

Mit dieser Konstruktion lassen sich die Dächer über den Feldern öffnen und schließen. So können die Forschenden das Mikroklima manipulieren, indem sie etwa Regen abhalten. Mit einer Sprinkleranlage lassen sich die Flächen aber auch künstlich beregnen.

Der Stresstest

Wir simulieren hier das Klima in den Jahren 2070 bis 2100”, erklärt Eisenhauer. Heiße und trockene Sommer, stattdessen umso mehr Regen im Frühjahr und Herbst.” Im Sommer erhalten die Pflanzen zwanzig Prozent weniger Wasser, es entsteht künstlicher Trockenstress. Nachts bleibt das Dach geschlossen, die im Boden gespeicherte Wärme des Tages entweicht dadurch langsamer.

Die Temperaturen, die der Wetterbericht täglich meldet, beziehen sich auf Messungen in zwei Metern Höhe. Der Boden aber kann sich deutlich schneller und stärker erwärmen – besonders, wenn er, wie nach der Ernte, unbewachsen und somit ungeschützt ist. In besonders heißen Weltregionen, etwa in Indien, hat sich nackter Boden in der Mittagssonne bereits auf mehr als sechzig Grad erhitzt. Bei solchen Temperaturen gerinnen Eiweiße, die Bodenlebewesen werden regelrecht gegart. Auch in Sachsen-Anhalt setzen Hitze und Trockenheit dem Bodenleben zu, erzählt Eisenhauer. Die Realität habe die Klimamodelle bereits über den Haufen geworfen.

Die Dürresommer 2018 und 2019 haben das Gefüge der Arten im Boden komplett durcheinandergeworfen.
Manche Arten sind fast gänzlich verschwunden,
vor allem viele aus dem Oberboden.
Der ist auf einigen Feldern komplett durchgetrocknet.
Wir wissen nicht, ob sich das wieder einpendelt.”
Nico Eisenhauer, Bodenökologe
Thermalkarte von Ackerböden

Je weniger sie durch Vegetation vor der Sonneneinstrahlung geschützt werden, desto stärker heizen die Ackerböden sich auf.

Je weniger sie durch Vegetation vor der Sonneneinstrahlung geschützt werden, desto stärker heizen die Ackerböden sich auf.

Es ist ein Stresstest, den insbesondere die konventionelle Landwirtschaft nicht besteht. Die Forschungsergebnisse aus Bad Lauchstädt sind beunruhigend: Die Erträge von Winterweizen etwa brechen unter der Trockenheit ein. Auf den Bio-Vergleichsfeldern sind die Ernteverluste weit weniger groß. Was sich in Bad Lauchstädt im Kleinen zeigt, wird an vielen Orten auf der Welt immer offensichtlicher: Die immer intensivere Landwirtschaft hat ihren Zenit überschritten.

Weltweit stagnieren, trotz immer größerem Aufwand, die Erträge für wichtige Grundnahrungsmittel wie Weizen und Mais. In manchen Regionen gehen die Ernten bereits zurück. Das liegt laut Welternährungsorganisation an einer Kombination aus sich gegenseitig verschärfenden Faktoren: dem Verlust der Bodenfruchtbarkeit, der abnehmenden Effizienz von Pestiziden und Düngemitteln sowie steigendem Schädlingsbefall und klimatischem Stress. 

Wie sehr das zunehmend unberechenbare Klima die Landwirtschaft trifft, zeigte sich 2023 erneut auch in Deutschland. Im verregneten Sommer, der auf ein zu trockenes Frühjahr folgte, sagte Cem Özdemir, Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft, die Klimakrise mache die Ernten zu einem „Lotteriespiel.

Weltweite Ernteverluste
in Folge von Bodendegradation:
bis zu 523 Milliarden Euro pro Jahr
Weltbiodiversitätsrat der Vereinten Nationen

Für Eisenhauer steht fest: Wir sollten nicht jedes Jahr den Maximalertrag anstreben, wir brauchen dauerhaft stabile Ernten.” Seine Erklärung dafür, warum der Ökolandbau mit der Trockenheit besser zurecht kommt: Dank höherer Humusgehalte können die biologisch bewirtschafteten Böden das verfügbare Wasser besser für die immer länger werdenden Dürreperioden speichern. Überdies hilft das reichhaltigere Bodenleben den Pflanzen, mit dem Trockenstress zurechtzukommen. Eisenhauer und sein Team haben Hunderte Bodenproben im Labor untersucht. In Bad Lauchstädt leben in den ökologisch bewirtschafteten Böden erheblich mehr Arten von Bakterien, Pilzen und Insekten als auf den konventionellen Vergleichsflächen. Doch was genau beeinträchtigt die Artenvielfalt im intensiv bewirtschafteten Ackerboden?

Auf den meisten konventionell bewirtschafteten Äckern werde zu viel gedüngt, hält Eisenhauer fest. Und Kunstdünger führt zu einer Verarmung der Bodenvielfalt. Die Pflanzen werden faul”, erklärt er. Normalerweise halten sie sich viele unterschiedliche Organismen an ihren Wurzeln, die für Nährstoffe sorgen. Bekommen die Pflanzen die Nährstoffe hingegen in Form von Kunstdünger, sind sie nicht mehr auf die Symbiose mit den Bodenorganismen angewiesen. Die Pflanzen geben dem Bodenleben keine Austauschstoffe mehr, viele Bodenlebewesen hungern deshalb. Während im Biolandbau Kompostgaben oder anderes organisches Material das Bodenleben füttern, können die meisten Organismen mit mineralischen oder synthetisch gewonnenen Düngemitteln, wie sie im konventionellen Anbau eingesetzt werden, wenig anfangen. Vereinfacht ausgedrückt: Während der Boden überdüngt wird, verhungert das Bodenleben. 

Hinzu kommen die Pestizide, die viele Bodenorganismen schädigen, der Pflug, der ihren Lebensraum im wörtlichen Sinne auf den Kopf dreht, und die immer schwereren Maschinen, die den Boden verdichten. Bis der Boden zu einem bloßen Substrat verkommt.

Das Tückische ist: Selbst kranke, zunehmend leblose Böden können gute Erträge liefern – zumindest solange, wie die notwendigen Inputs von außen zugeführt werden.

Das Oligopol vom Rhein

Eine Geschichte über den Zustand des Bodens ist deshalb auch zwingend eine Geschichte der agrochemischen Industrie. Folgt man dem Rhein stromaufwärts, führt die Reise vorbei an den Stammsitzen der drei europäischen Chemieriesen, deren Forschung auch die Zukunft des globalen Agrarsystems maßgeblich prägen wird. Allein der Weltmarkt für Pestizide soll in den kommenden zehn Jahren von derzeit knapp 80 Milliarden auf fast 130 Milliarden Euro wachsen.

In Monheim am Rhein sitzt die CropScience-Sparte von Bayer, seit der Übernahme von Monsanto 2018 der größte Agrarchemiekonzern der Welt. Hierher werden wir später noch zurückkehren.

BASF, gemessen am Umsatz noch immer der größte Chemiekonzern der Welt, hat seinen Stammsitz in Ludwigshafen am Rhein.

In Basel, wo der Rhein die Grenze zur Schweiz bildet, befindet sich die Zentrale des dritten Giganten im Oligopol der agrochemischen Industrie, wenngleich Syngenta seit 2015 im chinesischen Staatsbesitz ist. Unter der Führung von ChemChina soll die Syngenta Group schon bald zum Branchenführer werden.

Ein paar Kilometer weiter, in Therwil, einem Vorort von Basel, auf einem Acker neben einem der ältesten Bio-Höfe der Schweiz, läuft seit 1978 das weltweit längste Dauerexperiment zum Vergleich der Bodengesundheit zwischen ökologischer und konventioneller Landwirtschaft. Hier gehen die Forschenden zwei drängenden Fragen nach: Wie sehr schädigen Düngemittel und Pestizide die Böden? Und welche Anbausysteme schonen sie?

Eine Frage der Effizienz

Der Unterschied zwischen ökologischer und konventioneller Bewirtschaftung zeigt sich im Boden erst verzögert. Dann aber umso stärker.

Auf den 96 identischen Parzellen des DOK-Versuchs wollen die Forschenden verstehen, welche Auswirkungen dynamischer (Demeter), organischer (bio) und konventioneller Ackerbau auf den Boden haben. Wir vergleichen hier nicht einzelne Faktoren wie Pflanzenschutz oder Düngung oder Fruchtfolge, sondern wir vergleichen ganze Systeme“, erklärt Versuchsleiter Paul Mäder vom Forschungsinstitut für Biologischen Landbau (FiBL). Zusammen mit dem staatlichen schweizerischen Agrarforschungsinstitut Agroscope untersucht er, wie sich die verschiedenen Methoden der Düngung (mineralisch-synthetisch oder organisch mit Mist und Kompost) und des Pflanzenschutzes (biologisch oder synthetisch) auf die Böden und die Ernteerträge auswirken.

Monokultur, Überdüngung, Pestizide,
zu schwere Maschinen und die globalen Nährstoffflüsse.
Das sind die größten Herausforderungen der Landwirtschaft,
für deren Lösung es radikale Veränderungen braucht.

Paul Mäder, Leiter des DOK-Versuchs am FiBL

Die Ernteerträge fielen nach 42 Jahren ökologischer Bewirtschaftung im Schnitt 15 Prozent niedriger aus als auf den konventionellen Vergleichsflächen. „Es kommt sehr auf die Kulturen an. Bei Kleegras und Soja sind die Ertragsminderungen gering, bei Kartoffeln groß“, so Mäder. „Aber man muss immer die Erträge auch in Relation setzen zum Aufwand.” So würden im Bio-Landbau 92 Prozent weniger Pflanzenschutzmittel eingesetzt. Noch strenger als der Bio-Anbau, der zum Beispiel gegen Pilzkrankheiten Kupfer spritzt, ist der bio-dynamische Anbau reguliert, der auch darauf größtenteils verzichtet. „Und wir haben im Schnitt ungefähr fünfzig Prozent weniger Düngemittel und Energie eingesetzt”, ergänzt Mäder. „Wir haben also eine viel höhere Effizienz im Bioanbau.“

Item 1 of 12
„Die Kunst ist es, im Biolandbau gute Erträge zu produzieren, bei Erhaltung der Biodiversität und der Bodenfruchtbarkeit. Und unter Schonung des Klimas.
Dafür müssen wir auch im Biolandbau die Systeme durch Forschung optimieren: bessere Züchtungen, bessere Bodenbearbeitung, bessere Fruchtfolgen, besserer biologischer Pflanzenschutz – das kann alles zur Ertragssteigerung beitragen.“
Paul Mäder

Eine wichtige Erkenntnis der Langzeitstudie aus der Schweiz: Der Boden reagiert träge, Bodenforschung und Vergleichsversuche brauchen entsprechend viel Zeit. Wir haben im DOK-Versuch festgestellt, dass es zwischen bio und konventionell erst nach 16 Jahren Unterschiede im Humusgehalt gegeben hat, vor allem zwischen mineralisch gedüngt und Kompost-gedüngt”, so Mäder. Es habe dann noch einmal sechs weitere Jahre gedauert, ehe sich Unterschiede zeigten, je nachdem, welche Art von organischem Dünger eingesetzt wurde: gestapelter Mist, verrotteter Mist oder Mist-Kompost. Hätten wir früher Schlüsse gezogen aus diesem Versuch, wäre man zu falschen Ergebnissen gekommen”, so Mäder. Jetzt, nach 42 Jahren, sieht man, wie die Bodenqualität auseinandergeht zwischen bio und konventionell, mit sehr großen Auswirkungen auf die Bodenlebewesen und die Bodenstruktur.”

Mehr Ernte auf ärmerem Boden

Als die Rockefeller-Stiftung 1944 einen Mann namens Norman Borlaug nach Mexiko entsandte, ahnte noch niemand, dass der junge Agronom eines Tages in die Geschichtsbücher eingehen wird – als der Mann, der mehr Leben rettete als jeder andere”. Borlaugs Aufgabe bestand darin, neue Getreidesorten zu züchten, um die Ernten zu verbessern. Er erkannte, dass die Pflanzen auf den Äckern unter den steigenden Düngergaben zwar üppiger gediehen. Doch die Halme konnten das Gewicht ihrer eigenen Ähren nicht mehr halten, die Halme knickten einfach um. Borlaug kreuzte zwergwüchsige Weizensorten aus Japan ein. Das Ergebnis waren kleinwüchsige Pflanzen mit enormen Erträgen. Als sogenannte Hochleistungssorten” verbreiteten sich Borlaugs Züchtungen in den folgenden Jahren weltweit. In vielen Ländern konnten die Ernten von Grundnahrungsmitteln wie Weizen, Mais und Reis ab Mitte der Sechziger Jahre dank der neuen Sorten drastisch gesteigert werden. Weltweit stiegen die Erträge im Vergleich zum vorherigen Jahrhundert fast um das Dreifache, was vor allem im globalen Süden Millionen Menschen vor dem Hungertod bewahrte.

Als Vater der „Grünen Revolution“ erhielt Norman Borlaug 1970 den Friedensnobelpreis für seinen Verdienst, „mehr als jede andere Person unserer Zeit eine hungrige Welt mit Brot zu versorgen.“

Als Vater der „Grünen Revolution“ erhielt Norman Borlaug 1970 den Friedensnobelpreis für seinen Verdienst, „mehr als jede andere Person unserer Zeit eine hungrige Welt mit Brot zu versorgen.“

Doch je höher die Ernteerträge ausfielen, desto ausgelaugter wurden die Böden. Denn Höchsterträge lieferten die neuen Hochleistungssorten” nur unter einer Voraussetzung: dem Einsatz von Kunstdünger und Pestiziden. Kritiker sprechen deshalb von Hochreaktionssorten” – Pflanzen, die abhängig sind von der agrochemischen Industrie. Die Grüne Revolution ebnete die regionalen Besonderheiten ein, die bis dahin für vielfältige Agrarlandschaften, Anbautechniken und Sorten gesorgt hatten. Klima, Boden, Ernährungsgewohnheiten waren nun mehr zweitrangig. Die neuen Sorten funktionierten überall auf der Welt, solange die externen Zugaben stimmten. So ermöglichte die Grüne Revolution nicht nur ungeahnte Ernteerträge. Sie verhalf auch einem global zunehmend standardisierten Agrarsystem zum Durchbruch – mit all seinen negativen Folgen, die wir heute zu spüren bekommen. In einem Bericht von 2016 mahnte die Welternährungsorganisation deshalb:

„Die vergangene landwirtschaftliche Leistung ist kein Indikator für zukünftige Erträge. Die Intensivierung der Pflanzenproduktion, die auf Monokulturen und einem hohen Maß an externen Inputs beruht, hat die biologische Vielfalt und die Ökosystemleistungen – einschließlich der genetischen Vielfalt der Pflanzen, der Bodenbildung und der biologischen Stickstofffixierung – so stark beeinträchtigt, dass sie die Nachhaltigkeit der Nahrungsmittelproduktion selbst bedroht.“

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Ausgelaugt

Der Pflug und die Kunstdünger steigerten die Erträge drastisch, doch längst verwüsten sie die Erde. Im Zeitalter der Bodenkrise müssen wir den Ackerbau von Grund auf neu denken.

Kapitelübersicht

Kapitel I

Bodenlos

Die Böden zu bewahren ist nicht nur der Schlüssel im Kampf gegen den Hunger. Gesunde Böden wappnen uns auch gegen Klimakrise, Wassernot und Artensterben.

Kapitel II

Ausgelaugt

Der Pflug und die Kunstdünger steigerten die Erträge drastisch, doch längst verwüsten sie die Erde. Im Zeitalter der Bodenkrise müssen wir den Ackerbau von Grund auf neu denken.

Kapitel III

Grüne Revolution 2.0

Genveränderte Bodenmikroben, das „intelligente Feld“ und fragwürdige CO2-Zertifikate: Die Agrarindustrie entdeckt den Boden als Produkt.

Kapitel IV

Wiederbelebt

Die Industrie bremst, die Politik vertagt den Schutz der Böden. Doch längst zeigt sich auf immer mehr Feldern, wie sie aussehen kann: die bodenaufbauende Landwirtschaft der Zukunft.

von Marius Münstermann
Videos & Fotos Christian Werner
Illustrationen Erik Tuckow
Redaktion Wolfgang Hassenstein

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Umweltbundesamt - Kommission Bodenschutz