BODEN
BURNOUT

Um die Böden der Erde zu retten
– und damit uns selbst –
müssen wir unsere Landwirtschaft radikal ändern 

von Marius Münstermann
Fotos & Videos Christian Werner
Illustrationen Erik Tuckow

Für diese multimediale Reise in den Untergrund
empfehlen wir Vollbildmodus und Kopfhörer.

Kapitel IV

Wiederbelebt

Der Landwirt ist zwar Eigentümer des Bodens, doch der gehört eigentlich allen Menschen, 
denn die Zivilisation selbst beruht auf dem Boden.“

Thomas Jefferson

Der Befund der Europäischen Kommission ist eindeutig: „Die Bodendegradation kostet die EU jedes Jahr mehrere Zehnmilliarden Euro.“ Zwei Drittel der Böden auf dem Kontinent gelten als geschädigt. Doch während die EU den Schutz von Wasser und Luft längst reguliert hat, fehlt bis heute ein Rechtsabkommen für den Boden. Um ihn besser zu schützen, hat die EU-Kommission 2021 ihre „Bodenstrategie“ vorgestellt. Das Ziel: „Bis 2050 befinden sich alle Bodenökosysteme in der EU in einem gesunden Zustand und sind somit widerstandsfähiger, was sehr einschneidende Veränderungen in diesem Jahrzehnt erfordern wird.“

Im Juli 2023 stellte die Kommission dann ihren Entwurf für den Bodenschutz in Europa vor. Doch von dem einst ambitionierten Vorhaben ist nicht mehr viel zu erkennen.

In ihrer 2021 entworfenen Strategie hatte die Kommission noch explizit Pestizidrückstände und Überdüngung als „Problem der Bodenkontamination“ ausgemacht. Im nun vorliegenden Entwurf ist jedoch von einer Regulierung der Düngung keine Rede. Im Anhang heißt es lediglich: „Eine Düngung sollte sich je nach Ort und Zeitpunkt am Bedarf der Pflanzen und dem Zustand des Bodens orientieren.“ Zu bevorzugen seien Maßnahmen, die den Humusaufbau fördern. Was das konkret bedeuten soll, bleibt unklar. Das Wort Pestizide kommt im gesamten Entwurf nur im Anhang an einer einzigen Stelle vor – als Beispiel für Schadstoffe, deren Werte die Mitgliedsstaaten erheben „können“, aber eben nicht müssen. Verpflichtungen oder Sanktionsmaßnahmen? Fehlanzeige.

Caroline Heinzel vom Europäischen Umweltbüro (EEB), einem Dachverband von über 180 Umweltschutzorganisationen in Brüssel, hat den politischen Prozess intensiv verfolgt und den Entwurf der Kommission in einem Positionspapier detailliert kritisiert. Heinzel sagt: „Der Entwurf in seiner jetzigen Form wird leider nicht zu gesunden Böden in der EU führen.“ Bereits der geänderte Titel sei symptomatisch: Ursprünglich hatte die Kommission ein Bodengesundheitsgesetz („Soil Health Law“) angekündigt. Doch stattdessen hat sie nun einen Entwurf vorgelegt, der die „Beobachtung“ der Böden regeln soll („Soil Monitoring Law“). Der Vorschlag der Kommission sieht vor, dass die Mitgliedstaaten ihre Böden fünf Jahre lang überwachen und weitere Daten erheben sollen. Fünf weitere verlorene Jahre für einen konsequenten Schutz der Böden, kritisiert die Bodenkundlerin Andrea Beste.

Man könnte auch sagen:
Wir schauen dem Boden beim Sterben zu.

Andrea Beste, Agrarwissenschaftlerin und Politikberaterin

Seit mehr als 25 Jahren ist Andrea Beste weltweit als Beraterin für mehr Bodenschutz in der Landwirtschaft unterwegs. Allein in Europa hat sie mehr als 500 Ackerflächen untersucht. Als Sachverständige spricht sie in Landtagen, im Bundestag und im EU-Parlament. In Brüssel hat sie unter anderem für den Abgeordneten Martin Häusling, den agrarpolitischen Sprecher der Grünen, mehrere Gutachten zur Bodenpolitik der EU erstellt. Wichtig ist Beste, die Schuld für die Krise der Böden nicht allein bei den Bauern zu suchen.

Zu diesem Ergebnis kommt auch der Europäische Rechnungshof. Er stellte der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der EU-Staaten im August ein vernichtendes Zeugnis aus: Noch immer fließt ein Drittel aller EU-Fördermittel in die Landwirtschaft, bis 2027 werden rund 55 Milliarden Euro verteilt. Profiteure sind vor allem Betriebe mit großen Flächen. Dem Schutz der Böden aber dienen die hohen Agrarsubventionen nicht, so die Gutachter. Die Anforderungen, die die EU-Länder an die Betriebe stellen, „erfordern kaum eine Änderung der landwirtschaftlichen Praktiken.“ Doch diese Kritik stoße in Brüssel auf taube Ohren, sagt Andrea Beste.

Agrarwende oder Greenwashing?

Es waren überraschende Töne, wie sie die Schwergewichte der globalen Lebensmittelproduktion selten öffentlich äußern. Anfang Juni, zwei Tage nachdem die EU-Kommission ihren Entwurf für ein Bodengesetz vorgelegt hatte, erklärten Danone, Nestlé und Unilever in einer gemeinsamen Pressemitteilung: „Der Zustand der Böden in Europa ist beunruhigend.“ Während die agrochemische Industrie die konventionelle Landwirtschaft verteidigt, warnten die Branchenführer der Lebensmittelindustrie, dass das bodenzehrende Agrarsystem langfristig auch ihnen schade. In seltener Einigkeit mit Umweltorganisationen erklärten die Konzerne das Vorhaben der Kommission deshalb für zu „unambitioniert“. Sie führen Studien an, die einen Zusammenhang nahelegen zwischen dem Rückgang der Humusgehalte in Europas Ackerböden und den stagnierenden Ernteerträgen wichtiger Nahrungsmittel. Anders ausgedrückt: Die Bodenkrise gefährdet ihre Rohstoffversorgung und damit die Lebensmittelsicherheit.

Als Lösung schlägt Nestlé ein alternatives System der Nahrungsmittelproduktion vor, in das der Konzern bis 2025 mehr als eine Milliarde Euro investieren will: „regenerative Landwirtschaft“, also eine Form der Landwirtschaft, die den Boden aufbaut statt ihn auszulaugen. Weitere Megakonzerne wie Bayer, BASF, Syngenta, PepsiCo, Walmart, Microsoft, Unilever, McDonald’s und Cargill haben sich in den vergangenen beiden Jahren ebenfalls mit teils milliardenschweren Versprechen zur regenerativen Landwirtschaft bekannt.

Die Gretchenfrage lautet: Was genau meinen die Konzerne damit?

„Bei regenerativer Landwirtschaft geht es um Biodiversität, Wasserkreisläufe, verbesserte Viehhaltung und, ganz wichtig, den Schutz und die Gesundheit von Böden, auf denen wir unsere Rohstoffe anbauen“, verkündet Nestlé auf seiner Webseite. Zur Begründung heißt es: „Von der Art und Weise, wie wir mit unseren Böden umgehen, hängt ab, ob der Boden viel oder wenig CO2 aus der Atmosphäre aufnehmen kann. Wenn wir also unsere Böden aktiv schützen, entziehen wir der Atmosphäre CO2.“

Rodrigo Santos, Mitglied im Bayer-Vorstand, sagte in diesem Sommer: „Für uns bedeutet regenerative Landwirtschaft die Steigerung der Nahrungsmittelproduktion, höhere Einkünfte für Landwirte und eine größere Widerstandsfähigkeit der Landwirtschaft unter sich verändernden Klimabedingungen bei gleichzeitiger Wiederherstellung der Natur.“ Er kündigte an: „Wir werden Innovationen für die regenerative Landwirtschaft liefern und damit neue Marktpotenziale erschließen. Branchenführende Innovationen sollen nicht nur die Erträge der Landwirte steigern, sondern auch die Böden regenerieren und die Auswirkungen der Landwirtschaft auf das Klima und die Umwelt minimieren. Auf dem landwirtschaftlichen Betrieb der Zukunft werden die auf dem Feld erhobenen Daten und das im Boden gebundene CO2 für den Landwirt genauso wichtig sein wie der Ertrag.“

Klingt alles seltsam vertraut? Tatsächlich gehören für Bayer eben jene neuen Geschäftsfelder zur regenerativen Landwirtschaft, in die der Konzern in den vergangenen Jahren kräftig investiert hat: „biologische Produkte, Biokraftstoffe, Carbon Farming, Präzisionsanwendungen sowie digitale Plattformen und Marktplätze.“ Damit ließe sich das „Marktpotenzial, das heute bei mehr als hundert Milliarden Euro für das Kernportfolio liegt, verdoppeln.“

Andrea Beste sieht in den Bekenntnissen der Agrarindustrie zur regenerativen Landwirtschaft „einen klaren Fall von Greenwashing.“

Die Natur zurückholen

Was modern klingt, ist eigentlich eine Rückbesinnung auf uraltes Wissen. Die regenerative Landwirtschaft beinhaltet Elemente, die vor dem Aufkommen der Agrarindustrie überall auf der Welt verbreitet waren: In vielfältigen Landschaften mit Sträuchern und Bäumen, mäandernden Flussläufen, Tümpeln und Seen waren Natur und Nahrungsmittelproduktion nicht voneinander getrennt, sondern miteinander verwoben. So ist etwa der Amazonas, der häufig als Symbol für den Urwald schlechthin dient, in Wahrheit in weiten Teilen das Ergebnis jahrhundertelanger, geplanter Umgestaltung durch die indigene Bevölkerung, die Bauholz entnahm und dafür gezielt besonders begehrte Sorten essbarer oder anderweitig nutzbarer Bäume integrierte. Die Menschen und ihre Nutztiere bewegten sich innerhalb dieser polykulturellen Waldlandschaften. In vielen Gegenden des globalen Südens spielen solche diversen Agrarsysteme bis heute eine wichtige Rolle für die Ernährung von Millionen Menschen. Es sind eben jene Systeme, die der europäische Kolonialismus als unproduktiv abtat und rodete, um sie mit dem Pflug in Plantagen umzuwandeln.


Auch die Streuobstwiesen Mitteleuropas sind ein Beispiel für artenreiche Anbausysteme. Im Zuge der Flurbereinigung seit Mitte der Fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurde die kleinstrukturierte, vielfältige Agrarlandschaft großenteils vernichtet. Die Bauern erhielten Prämien, wenn sie die alten Obstbäume fällten, Hecken ausrissen, Tümpel zuschütteten und Bäche zu Gräben begradigten. Die Prämisse lautete: Fläche schaffen für die immer größeren Maschinen, um die Erträge zu maximieren. Unter all dem litt der Boden.

Seit den Achtziger Jahren versuchen immer mehr Menschen auf der ganzen Welt, all diese ausgeräumten Elemente in die monotone Agrarlandschaft zurückzubringen. Es geht darum, die degradierten Böden zu neuem Leben zu erwecken – und damit letztlich die gesamte Landschaft zu regenerieren.

Wie lassen sich Landwirtschaft und Landschaft wieder verbinden?

Hecken bieten Lebensraum für zahlreiche Tierarten. Sie bremsen den Wind und somit die Erosion.

Auch Teiche, Tümpel, Bäche und Flüsse sind wahre Hotspots der Biodiversität. Außerdem sorgen für einen ausgeglichenen Wasserhaushalt im Boden.

Bäume spenden Schatten und Kühlung, nachts halten sie die Wärme auf dem Acker.

Tierhaltung und Ackerbau finden wieder zusammen und ergänzen sich, im Idealfall entstehen geschlossene Nährstoffkreisläufe.

Biobranche und regenerative Betriebe im Streit

„In Deutschland gibt es kein weit verbreitetes Label oder eine Zertifizierung für regenerative Landwirtschaft,“ heißt es in einer im März 2023 erschienenen Studie des NABU in Zusammenarbeit mit der Boston Consulting Group mit dem Titel „Der Weg zu regenerativer Landwirtschaft in Deutschland – und darüber hinaus“. Die Autoren kommen darin unter anderem zu dem Ergebnis, eine flächendeckende Umstellung auf regenerative Arbeitsweisen brächte „erhebliche Vorteile für die Agrarbetriebe und die nachgelagerten Lebensmittelunternehmen sowie für den gesamten sozio-ökologischen Kontext – sowohl in wirtschaftlicher Hinsicht als auch in Bezug auf die Gesundheit und das Wohlergehen des Landes.“ Interessant ist vor allem der anschließende Satz: „Dies kann ohne die Belastung der Verbraucher*innen durch Preiserhöhungen oder Prämien erreicht werden und erfordert keine Einführung von Labels.“

In den USA hingegen werden bereits seit einigen Jahren verschiedene Labels für Produkte aus regenerativer Landwirtschaft vergeben. Den Anfang machte 2017 das Siegel „regenerative organic certified“. Grundvoraussetzung für diese Zertifizierung ist die Einhaltung des US-amerikanischen Bio-Standards. Doch diesen Standard wollen die so zertifizierten Betriebe ausweiten, nicht nur um weiterreichende ökologische Verpflichtungen wie den Verzicht auf Bodenbearbeitung, sondern auch um soziale Kriterien wie die faire Bezahlung ihrer Angestellten. Die Idee ist also eine Art Bio plus.

Die noch kleine, aber wachsende Szene regenerativ arbeitender Betriebe in Europa ist uneins in der Frage, welchen Sinn ein weiteres Label überhaupt erfüllen sollte. Ende 2023 hat sich ein Bündnis von mehr als fünfzig regenerativ arbeitenden Landwirtinnen und Landwirten aus ganz Europa gegründet, um ihre politischen Interessen zu bündeln: die European Alliance for Regenerative Agriculture, kurz EARA. Deren Sprecher Simon Krämer, der auch an der NABU-Studie beteiligt war, sagt im Gespräch mit dem Greenpeace Magazin, EARA strebe kein eigenes neues Siegel an: „Wir wollen das Rad nicht neu erfinden. Unser Fokus liegt auf strukturellen Veränderungen in der Agrarpolitik.“ Als Vorbild sieht Krämer das US-amerikanische Label „regenified“, das seiner Meinung nach auch in Europa angewandt werden könnte. Das Besondere an dieser Zertifizierung: Um sie zu erhalten, müssen die teilnehmenden Betriebe nicht strikt ökologisch arbeiten, auch konventionelle Betriebe können das Label, das in verschiedenen Abstufungen vergeben wird, erhalten. Auch bei EARA sind konventionelle Landwirtinnen und Landwirte explizit willkommen. Krämer betont, entscheidend sei, dass sich die Betriebe aufgemacht hätten „auf den Pfad der Regeneration“. Bei der Weltklimakonferenz in Dubai stellte EARA seinen Ansatz in einem Positionspapier ausführlich dar: „Synthetische Pestizide können zwar anfänglich oder in bestimmten Kontexten eingesetzt werden, der Schwerpunkt liegt jedoch auf einer drastischen Verringerung des konventionellen Einsatzes durch ein ehrgeiziges und kontextspezifisches Phasing-out-Konzept. Das angestrebte Ergebnis ist in erster Linie die ökologische Gesundheit durch eine verbesserte Bodengesundheit, in diesem Fall möglicherweise gemessen als Entwicklung der Gesamttoxizitätsbelastung pro Hektar/Ertrag und/oder der biologischen Vielfalt im Boden.“ Die Argumentation klingt einleuchtend: Statt lediglich die kleine Bio-Nische zu optimieren, müsse es darum gehen, die große Mehrheit der konventionellen Betriebe mitzunehmen auf den Weg zu einer regenerativen Landwirtschaft. Das sei der deutlich größere Hebel für einen systematischen Wandel.

Ganz anders bewertet die Biobranche die neue Konkurrenz. „Die landwirtschaftlichen Methoden, die die ‚Regenerative Landwirtschaft‘ anspricht, gehören zum bewährten Instrumentarium der ökologischen Landwirtschaft. Aber die ‚Regenerative Landwirtschaft‘ nutzt kein klar definiertes Set an Zielen und Maßnahmen, es fehlen Regelwerke und Überprüfungssysteme, außerdem politische Programme und Fördermaßnahmen.“ So sieht es die Supermarktkette Alnatura, die Produkte mit verschiedenen Biosiegeln verkauft. In ihrem 2023 veröffentlichten „Standpunkt“ heißt es weiter: „Wenn sich Vertreter von Landwirtschaft und Naturschutz oder Zivilgesellschaft auf undifferenzierte Weise zustimmend für die ‚Regenerative Landwirtschaft‘ aussprechen, ist dies schädlich für die ökologische Landwirtschaft. Denn es verwischt das klare Profil der ökologischen Landwirtschaft, verwirrt die Verbraucherschaft und ebenso die politischen Gestalter und verzerrt den Wettbewerb am Lebensmittelmarkt auf unfaire Weise.“ Und „Naturland“-Präsident Hubert Heigel behauptet in einem an das Greenpeace Magazin gerichteten Leserbrief sogar: „Regenerativ ist oft bloß ein weiteres Buzzword im breiten Spektrum von Green(washing).“

Der Streit zwischen zertifizierten Bio-Landwirtinnen und -Landwirten auf der einen und selbsternannten regenerativen Betrieben auf der anderen Seite ist längst nicht beigelegt. Sicher ist jedoch, dass von der regenerativen Landwirtschaft wichtige Impulse für die ökologische Erzeugung von Lebensmitteln ausgehen.

„Wenn wir in die Natur schauen, finden wir nirgendwo Monokultur.“

Maria Giménez, regenerativ arbeitende Landwirtin in Brandenburg

Eine der Pionierinnen der regenerativen Landwirtschaft in Deutschland ist Maria Giménez. Sie machte als Künstlerin Karriere – bis sie durch einen glücklichen Zufall in die Landwirtschaft stolperte. Ihr vermögender Schwiegervater hatte nach der Wende in Brandenburg viel Land erworben. Als die Pachtverträge mit den Großbauern zur Bewirtschaftung ausliefen, stellte er Maria vor eine Entscheidung, die ihr Leben verändern sollte: Er bot ihr das Land zur Bewirtschaftung an, 360 Hektar Acker und Forst. Maria sagte zu. Was als kleiner Gemüsegarten für Berliner Märkte begann, hat sich in den vergangenen acht Jahren zu einem Vorbildbetrieb der regenerativen Landwirtschaft entwickelt.

Maria Giménez teilte die Ackerflächen in schmale Streifen von dreißig Metern, angepasst an die Arbeitsbreiten ihrer Maschinen. Dazwischen pflanzte sie Bäume. Viele Bäume. Inzwischen stehen auf ihren Feldern und Weiden mehr als 200.000 Bäume von 45 verschiedenen Arten. Das Konzept nennt sich Agroforst, also die Integration von Gehölzen in den Ackerbau. Die Idee: Bäume spenden Schatten und bremsen den Wind. So beugen sie der Erosion vor. Ihr Laub nährt das Bodenleben, an ihren Wurzeln siedeln sich nützliche Pilze an. All das stärkt die Getreidepflanzen, Sonnenblumen und all die anderen Ackerfrüchte, die sie zwischen den Baumreihen anbaut. Weltweit hat sich gezeigt, dass Agroforstsysteme deutlich produktiver sind als der Anbau von nur einer Kulturpflanze auf derselben Fläche”, erklärt Giménez. Tatsächlich haben Studien ergeben, dass die Erträge der Hauptkultur – etwa Weizen – höher ausfallen können, wenn sie von Gehölzen umrahmt wachsen, etwa von Walnussbäumen. Die Landwirte ernten in vielen Fällen mehr Getreide, obwohl sich die Anbaufläche durch die Baumreihen verringert. Und die Bäume und Sträucher liefern weitere Einkommensquellen. Ihr Früchte, Beeren, Nüsse oder ihr Holz lassen sich ebenfalls vermarkten.

In den Tropen, wo Bäume dringend benötigten Schatten und Kühlung liefern, sind Agroforstsysteme auch im kommerziellen Anbau verbreitet, zum Beispiel Kaffeesträucher unter schnell wachsendem Eukalyptus für die Papierherstellung. Für Afrika sprechen Forschende von einer Win-Win-Situation. Für die Nordhalbkugel, wo weniger Sonnenlicht zur Verfügung steht, kommen Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen: Zwar gehen die Ernteerträge selbst im sonnigen Südeuropa anfangs in den meisten Fällen minimal zurück, weil eben die Anbaufläche für die Hauptkultur reduziert wurde. Doch der polykulturelle Anbau kann gerade in Zeiten zunehmender Klimaextreme helfen, die Ernteerträge stabil zu halten. Außerdem steigt in vielen Fällen die Qualität der Erzeugnisse. Und mit der Zeit gleicht sich das Ertragsniveau wieder an erst recht, sobald auch die Bäume und Sträucher erste Ernten abwerfen. Eine Auswertung von Erträgen aus Agroforstsystemen in Brandenburg und Sachsen-Anhalt „bestätigt die größere Effizienz von Agroforstsystemen gegenüber Monokulturen.“ In Europa sind die meisten Agroforsysteme, abgesehen von einigen etablierten Vorzeigeprojekten, noch recht jung. Um ihre Effizienz umfassend bewerten zu können, brauche es Zeit, betonen Forschende – und einen geweiteten Blick, der neben den Ernteerträgen auch Faktoren wie Biodiversität, Wasserspeicherung und Klimaresilienz berücksichtigt.

Item 1 of 4

Letztlich kommt es ebenso darauf an, wie die Bäuerinnen und Bauern den Boden zwischen ihren Bäumen bestellen. Maria Giménez etwa verzichtet ebenfalls auf mechanische Bodenbearbeitung. Die Bodenpflege erledigen ihre Kühe. Im Herbst, nach der Ernte, schickt Giménez ihre Herde von vierzig schottischen Hochlandrindern über die Äcker. In dieser ganzjährigen, rotierenden Weidehaltung werden die vermeintlichen Klimakiller wieder zu den humusaufbauenden Nährstoffumwandlern, die sie natürlicherweise sind. Die Tiermedizinerin und ehemalige Autorin des Weltagrarberichts, Anita Idel, hat die herausragende Rolle von Wiederkäuern wie Rindern für die Bodengesundheit eindrücklich beschrieben. Bei Maria Gimenéz fressen sie Gräser und Kräuter, düngen die Flächen mit ihren Ausscheidungen und bereiten mit ihren Hufen den Boden für die folgende Aussaat vor.

Die Sämaschine für die anschließende Direktsaat hat Giménez übrigens extra aus Brasilien importiert – ein Tipp von ihrem Kollegen Mark Dümichen, dessen Hof gar nicht weit entfernt liegt. Mit ihm tauscht sie sich häufig aus. „Alles, was ich weiß über regenerative Landwirtschaft, weiß ich von anderen landwirtschaftlichen Betrieben, die sich aufgemacht haben und die festgestellt haben: So, wie wir mit unserem Boden umgehen, können wir nicht weitermachen”, sagt Giménez. „Diese Bewegung aus landwirtschaftlichen Betrieben, die regenerativ arbeiten und die sich aufmachen auf diesen neuen Weg, das ist eine wunderschöne Bewegung aus dem Untergrund. Und diese Bewegung ist global. Die wird jetzt immer größer.”

Wer mit Maria Giménez an den Teichen und Hecken entlang spaziert, die sie angelegt hat, den Rindern beim Grasen auf der Weide zuschaut und dem Obst beim Reifen, der kann erahnen, wie sie aussehen könnte, die zukunftsfähige Landwirtschaft. Hier ist sie bereits Realität geworden, die Vision einer Landwirtschaft, die den Boden und die Artenvielfalt wieder ins Zentrum stellt. Eine Landwirtschaft, die weit über den Ackerrand hinaus positive Effekte schafft, die eine dürregeplagte Region zu einer klimaresilienten Landschaft verwandelt. Eine Landwirtschaft, die Lebensmittel erzeugt und dabei Wasser und Klima nicht belastet, sondern schützt. Eine Landwirtschaft, die tatsächlich Teil der Lösung sein kann.

Kapitelübersicht

Kapitel I

Bodenlos

Die Böden zu bewahren ist nicht nur der Schlüssel im Kampf gegen den Hunger. Gesunde Böden wappnen uns auch gegen Klimakrise, Wassernot und Artensterben.

Kapitel II

Ausgelaugt

Der Pflug und die Kunstdünger steigerten die Erträge drastisch, doch längst verwüsten sie die Erde. Im Zeitalter der Bodenkrise müssen wir den Ackerbau von Grund auf neu denken.

Kapitel III

Grüne Revolution 2.0

Genveränderte Bodenmikroben, das „intelligente Feld“ und
fragwürdige CO2-Zertifikate:
Die Agrarindustrie entdeckt den Boden als Produkt.

Kapitel IV

Wiederbelebt

Die Industrie bremst, die Politik vertagt den Schutz der Böden. Doch längst zeigt sich auf immer mehr Feldern, wie sie aussehen kann: die bodenaufbauende Landwirtschaft der Zukunft.

von Marius Münstermann
Videos & Fotos Christian Werner
Illustrationen Erik Tuckow
Redaktion Wolfgang Hassenstein

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